Wie Männer zu besseren Verbündeten werden

Das Aktivistenduo Herr & Speer hat zwei Lieblingsthemen: Das eine dreht sich um die Frage, wie Männer zu besseren Verbündeten der Frauen werden können, das andere Thema drückt sich in ihrer Liebe zu Europa aus. Im Interview sprechen Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer darüber, ob sie schon immer Feministen waren, über die Sorgen, die Männer teilen, wenn keine Frauen anwesend sind, und über ihren Lieblingsort in Europa.

„Zuhören, Lernen, Reflektieren und Handeln“

Warum ist Feminismus keine reine Angelegenheit der Frauen?

Vincent-Immanuel Herr: Wir definieren Feminismus zum einen als die Idee, dass Menschen aller Geschlechter den gleichen Wert haben und den gleichen Respekt verdienen. Zum anderen bedeutet Feminismus immer auch den Einsatz für eine Welt, in der dieser Wert auch umgesetzt wird. Das ist keine radikale Forderung. Auch Männer haben ein Interesse daran, dass ihre Schwestern, Mütter, Kolleginnen und Freundinnen in einer gleichberechtigten Welt leben.

Martin Speer: Männer sollten auch immer im Hinterkopf haben, aus welcher Geschichte heraus diese Bewegung entstanden ist. Ich denke gerade an das Buch “Die Ersten ihrer Art” von Heike Specht.

“Wir definieren Feminismus zum einen als die Idee, dass Menschen aller Geschlechter den gleichen Wert haben und den gleichen Respekt verdienen.”

Warum bezeichnet ihr Euch dann nicht besser als “Humanisten”?

Vincent-Immanuel Herr: Wenn wir uns als Feministen bezeichnen, würdigen wir die Leistungen der Frauen, die sich gegen große Widerstände Rechte und Anerkennung erkämpft haben.

Was ist ein Male Ally, ein männlicher Verbündeter – und wie kann man einer werden?

Vincent-Immanuel Herr: Das Wichtigste bei einem Verbündeten ist die Bereitschaft zuzuhören sowie die Bereitschaft, eigene Privilegien anzuerkennen und von den Menschen zu lernen, die weniger Privileg in der entsprechenden Situation haben. Im Falle der Geschlechtergerechtigkeit bedeutet das also: den Frauen zuhören. Und schließlich das Gelernte anwenden und für systemische Veränderung eintreten, in den Unternehmen, in der Politik und auch im privaten Leben.

Euer Buch “Das Buch, das jeder Mann lesen sollte – In vier Schritten zum Feministen” ist in einem Kollektiv von sieben Autor:innen entstanden – wie schreibt man ein Buch zu siebt, ohne aneinanderzugeraten?

Martin Speer: Viel und offen miteinander sprechen ist zentral, so haben wir oft einen gemeinsamen Nenner gefunden, auch bei weiterhin existierenden Unterschieden – das darf ja bitte auch sein. Wir haben es geschafft, eine gemeinsame Grundlage zu finden und vier Schritte zu identifizieren, die Männern helfen, Verbündete zu werden: Zuhören, Lernen, Reflektieren und Handeln.

“Frag eine Frau, die Du gut kennst und zu der Du eine gute Beziehung hast, wie sich Sexismus in ihrem Leben anfühlt und wie Du helfen kannst.”

Wenn ein Mann überhaupt nichts mit Feminismus am Hut hat, was wäre eine Sofortmaßnahme?

Vincent-Immanuel Herr: Wir sagen zu Männern, die skeptisch sind oder zweifeln, ob das Problem überhaupt so groß sein kann: Frag eine Frau, die Du gut kennst und zu der Du eine gute Beziehung hast, wie sich Sexismus in ihrem Leben anfühlt und wie Du helfen kannst. Hör zu, ohne zu verurteilen und ohne gleich eine Antwort liefern zu müssen.

Ab wann habt Ihr Euch als Feministen begriffen?

Vincent-Immanuel Herr: Meine Eltern haben den Begriff häufig benutzt. Ich habe bei meiner Mutter sehr früh mitbekommen, wie notwendig es ist, dass sich Männer zu Verbündeten von Frauen machen. Ihr wurden in dem wissenschaftlichen Umfeld, in dem sie arbeitet, Steine in den Weg gelegt, ihr letztlich das Leben schwergemacht.

Wie sah das aus?

Vincent-Immanuel Herr: Leute haben gesagt, Frauen gehörten nicht an die Uni, sondern nach Hause, solche Geschichten. An meinem Vater habe ich gesehen, wie ein positives Männlichkeitsbild aussehen kann. Er hat meine Mutter auf ihrem Karriereweg ermutigt, hat die Hälfte der Sorgearbeit übernommen und sich wunderbar um meine Schwester und mich gekümmert, als meine Mutter pendelte.

Martin Speer: Ich bin im ländlichen Umfeld in Franken aufgewachsen, in einem Umfeld, in dem Feminismus kaum eine Rolle gespielt hat oder offen thematisiert wurde. Hinzu kommt, dass der Lebensgefährte meiner Mutter Frauen oft nicht sonderlich gut behandelt hat und selbst in starren Männlichkeitsbildern gefangen war. Geklickt hat es erst mit Mitte Zwanzig bei mir, als andere Männer mir den Spiegel vorhielten und Sachen sagten wie: “Hey, was war das denn gerade für ein Spruch?”

Wo stehen wir Eurem Gefühl nach in Sachen Gleichstellung?

Vincent-Immanuel Herr: Ich glaube, wir befinden uns in einer Übergangszeit. Das Alleinernährer-Modell war vor allem in Westdeutschland sehr präsent, aber es bricht auf. Denn Frauen wollen ebenfalls Karriere machen und Männer müssen oder dürfen deshalb mehr Sorgearbeit übernehmen. Das haben die meisten Männer aber so nicht gesehen bei ihren Vätern.

Was muss passieren?

Vincent-Immanuel Herr: Es braucht einen Kulturwandel, aber der braucht Zeit. Wir bemerken hier viele Schmerzpunkte bei Männern, sie haben Angst vor einem Karriereverlust und auch eine diffuse Sorge vor einem Männlichkeitsverlust. Ich kann nicht wirklich für Frauen sprechen, aber wir beobachten regelmäßig Frustration, dass die Männer nicht mehr mitziehen. Und die Männer fragen sich, platt gesagt, ob ein männlicher Kerl Babybrei kochen kann und was die anderen Männer oder der Chef darüber denken.

Martin Speer: Die Arbeit mit Männern an und mit diesen Fragen muss viel regelmäßiger auf die Agenda. An unserer Arbeit in Unternehmen sehen wir, dass Männer großen Redebedarf haben.

Irgendetwas fühlt sich falsch an, wenn Männer untereinander die Sache der Frauen aushandeln.

Vincent-Immanuel Herr: Verbündete wandern hier auf einem schmalen Grat zwischen einerseits Vorbild für andere Männer zu sein und andererseits Frauen nicht die Führungsrolle in dieser Bewegung streitig zu machen. Es ist eigentlich ein Paradox – auch dass es Initiativen wie etwa #HeforShe der Vereinten Nationen überhaupt geben muss.

Martin Speer: Frauen sind die Top-Expertinnen in dem Themenfeld. Trotzdem werden oft wir in Unternehmen eingeladen, um mit Männern über Feminismus zu sprechen. Weil die Erfahrung leider zeigt, dass Männer Frauen bei dem Thema nicht so gut zuhören. Ich wünschte, es wäre anders. Reine Männerrunden erlauben es, dass Männer offen sprechen, ihre Sorgen, Ängste und teilweise auch Vorurteile einfach raushauen.

Vincent-Immanuel Herr: Das sind teilweise harte Sachen, die da rauskommen. Wir denken: Besser, wir fangen es ab, als wenn sie das in sich hineinfressen. Sonst bildet sich auch ein stiller Widerstand gegen Gleichstellungsbemühungen. Wichtig ist dann aber auch, die Tür wieder rechtzeitig aufzumachen und in den gemeinsamen Dialog zu kommen.

“Männer suchen nach Antworten, brauchen aber ihre Zeit, um das auch zuzugeben. Sie wollen über Sexismus sprechen und welche Rolle sie in der Lösung spielen können.”

Was hauen die Männer raus?

Vincent-Immanuel Herr: Wiederkehrende Themen sind Variationen des Satzes: “Als Mann werde ich in der Firma nichts mehr.” Also, dass da eine ganz große Angst ist, dass nur noch Frauen befördert werden, und zwar rein aufgrund des Geschlechts. Das spiegelt sich nicht in Zahlen wider, die meisten Personalstatistiken zeigen, dass jede Menge Männer nach wie vor befördert werden.

Martin Speer: Aber das persönliche Empfinden ist eben, dass Männer mittlerweile systematisch benachteiligt werden und ihrer Karriere Auf Wiedersehen sagen können. Ein verwandtes Thema ist die Frauenquote, da brennt die Decke in der Regel.

Gibt es auch konstruktive Gespräche?

Vincent-Immanuel Herr: Absolut. Männer suchen nach Antworten, brauchen aber ihre Zeit, um das auch zuzugeben. Sie wollen über Sexismus sprechen und welche Rolle sie in der Lösung spielen können. Oder sie tauschen Tipps für die Elternzeit aus.

Martin, Du hast einmal gesagt: “Ziel aller Bemühungen darf nicht sein, Frauen dem männlich geprägten Leistungssystem anzupassen” – was meinst Du damit?

Martin Speer: Präsenzkultur und Dauererreichbarkeit sind zwei Beispiele, die aus einer männlich geprägten Leistungskultur entstanden sind, weil Männer de facto diese Zeit hatten. Wenn die Frau die Kinder ins Bett bringt, kann sich der Mann abends um acht noch in eine Zoom-Konferenz schalten.

Vincent, in einem Gastbeitrag bei Spiegel Online hast Du kritisiert, dass hauptsächlich Männer breitenwirksam über ihre Elternzeit sprechen. Erfüllt das nicht eine tolle Vorbildfunktion?

Vincent-Immanuel Herr: Ich will da nicht falsch verstanden werden. Ich finde es gut, dass Männer Elternzeit nehmen und drüber sprechen. Ich habe kritisiert, dass die mediale Aufmerksamkeit immer auf die Männer geht, wo doch Frauen immer noch den Löwenanteil der Elternzeit übernehmen.

Wie bringt Ihr das Thema Gleichberechtigung und Feminismus raus aus einer akademischen Blase?

Martin Speer: Wir arbeiten beispielsweise mit Unternehmen zusammen, die sehr techniklastig sind, die Hochspannungsleitungen bauen oder Milliardensummen auf dem männlich dominierten Finanzmarkt hin und her bewegen. Wir versuchen dann sehr praxisnah zu erzählen, wo die Herausforderung, aber auch der Mehrwert liegt, und versuchen immer einen Bezug zur Lebensrealität der Frauen im direkten Umfeld herzustellen. Eine Statistik wird dann lebendig und relevant, wenn verstanden wird, dass es die Lebensrealität der Schwester, Mutter oder Kollegin ist. Generell versuchen wir, ohne Zeigefinger zu arbeiten, eher mit der ausgestreckten Hand.

“Firmen sind erfolgreich, wenn mehr Frauen in Führung sind und wenn Diversität ernst genommen wird und nicht nur auf der Homepage steht.”

Ein Engagement für den Feminismus würde man politisch eher links der Mitte verorten. Wie ist Euer Verhältnis zum Konservatismus?

Vincent-Immanuel Herr: Wir haben beide kein Parteibuch. Ich habe in der Bundeswehr gedient und bin Wechselwähler. Ich habe außer der AfD alle Parteien gewählt, die im Bundestag sitzen, auf lokaler, Landes- oder Bundesebene. Vermutlich stimmt es, dass wir mit unserem Engagement eher links einzuordnen sind. Ich mag diese Einordnung aber nicht. Es geht um menschliche Würde, Anerkennung und Respekt.

Martin Speer: Ich war früher CSU-Mitglied, das ist kein Geheimnis. In der bayerischen Peripherie gab es eben die Junge Union für junge Menschen mit politischem Interesse. Im Grunde, so kann man auch argumentieren, ist es ja ein konservativer Gedanke, Frauenrechte zu verteidigen und zu bewahren.

Vincent-Immanuel Herr: Man kann sich dem Thema Geschlechtergerechtigkeit ja auch aus einer praktisch-wirtschaftlichen Perspektive nähern, die Vorteile liegen auf der Hand: Firmen sind erfolgreich, wenn mehr Frauen in Führung sind und wenn Diversität ernst genommen wird und nicht nur auf der Homepage steht. Ganze Länder und Gesellschaften sind stabiler, Männer haben eine höhere Lebenserwartung, Kriege werden seltener. Und das sind ja nicht nur progressive Ziele, dass unser Wirtschaftssystem und sozialer Zusammenhalt stabil bleiben.

Was liebt Ihr an Europa?

Vincent-Immanuel Herr: Alles.

Martin Speer: Europäer:in sein heißt, in Bewegung zu sein, nicht nur physisch. Einander kennenlernen, auch im Denken. Es ist eine konstante Auseinandersetzung mit Vielfalt.

Vincent-Immanuel Herr: Wir sehen gerade in einem Kontext von zurückgehender Demokratisierung und Freiheitswerten die Europäische Union als unglaublich wichtig, diese Werte zu vertreten. Da schließt sich der Kreis mit der Geschlechtergerechtigkeit. Das ist für uns das Schöne an der europäischen Idee.

Ihr wisst, wie man politische Prozesse in Gang bringt. Mit #EsIstZeit, der Kampagne für die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, und #FreeInterrail für ein kostenloses Interrailticket für EU-Bürger. Was wäre Euer Rat an Menschen, die sich gerne politisch engagieren wollen, sich aber in keiner Partei wiederfinden oder auch nicht so richtig wissen, wie sie anfangen sollen?

Martin Speer: Verbündet euch. Es gibt gewiss viele Leute mit ähnlichen Sorgen oder Ideen. Ideen helfen in der Schublade niemandem, sprecht sie aus. Geht auf Politiker:innen oder andere Führungspersönlichkeiten zu und schmiedet Allianzen.

Vincent-Immanuel Herr: Genau, keine Scheu vor großen Institutionen. Je mehr Leute von einer Idee wissen, desto stärker wird sie. Unser Buch “Tun wir was” versammelt über 40 sehr konkrete Tipps dazu.

Ihr seid auf Forschungsreisen viel herumgekommen, an welchen europäischen Ort denkt Ihr gerne zurück?

Vincent-Immanuel Herr: Die Straße von Messina, wenn man das kleine Stück zwischen Süditalien und Sizilien auf dem Schiff überquert.

Martin Speer: Die Bahnstrecke von Chur durch die Rheinschlucht ist wunderschön.

 

Das Interview führte Julia Hägele.

Über Herr & Speer

Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer sind Autoren, Feministen, Berater und überzeugte Europäer aus Berlin. In ihrer Arbeit konzentrieren sie sich auf die Bereiche Europa und Geschlechtergerechtigkeit. Hierzu schreiben sie Artikel und Bücher, halten Impulse und Workshops, moderieren und beraten. Als sich ihre Wege erstmals 2008 während des Studiums in den USA kreuzten, begannen sie schnell über gesellschaftlichen Themen zu debattieren und stellten fest, dass uns eine Leidenschaft für Politik und das Streben nach konkreten gesellschaftlichen Lösungsansätzen verbindet. Zurück in Deutschland begannen sie 2013 gemeinsam Artikel zu verfassen und initiierten erste politische Kampagnen. Ob #FreeInterrail, #EuropeLovesUK oder #HeForShe, aus ihrem Teilzeitengagement ist mittlerweile eine Lebensaufgabe geworden. Heute setzen sie sich für ein geeintes Europa und Geschlechtergerechtigkeit ein. Sie arbeiten dafür, dass aus Ideen Wirklichkeit werden und möglichst viele Menschen ein Teil von Fortschritt sein können. Sie sind HeForShe Botschafter für UN WOMEN Deutschland und wurden im Jahr 2022 in den Gender Equality Advisory Council der G7-Staaten (GEAC) berufen.

Am 12. Oktober ist Martin Speer zu Gast beim Authors-MeetUp auf der herCAREER Expo.

Der Beitrag ist Teil einer Content Kooperation von weconomy & herCAREER und wurde zuvor bereits auf www.her-career.com veröffentlicht.

 

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