Beginnen wir diese Geschichte mit einem kleinen Gedankenexperiment. Rufen Sie sich doch einmal in Erinnerung, wann Sie zuletzt über Rassismus und Diskriminierung gesprochen haben – egal, ob bei Ihnen zuhause am Küchentisch oder im Bekanntenkreis. Und fragen Sie sich, ob Sie schon jemals mit Ihren Kindern, sofern Sie welche haben, darüber geredet haben. Wenn Sie das nicht wissen oder verneinen müssen, dann sind Sie mit ziemlicher Sicherheit weiß. Schwarze Menschen werden auf diese Fragen naturgemäß völlig anders antworten als weiße – und das ist auch ganz logisch. Schließlich sind sie es, die mit Diskriminierung konfrontiert werden, ständig, in einer Gesellschaft, in der Rassismus tief verankert und ein klar strukturelles Problem ist. Die Verantwortung, das zu verändern? Die liegt an jenen Menschen, die nicht davon betroffen sind – indem sie sich selbst mit diesem Thema auseinandersetzen, sich weiterbilden und sensibilisieren – und vor allem die nächste Generation rassismuskritisch erziehen.
Wie nähert man sich dem Thema an?
Es gibt Menschen, die behaupten, Kinder würden keine Hautfarbe „sehen“, und es gibt Menschen, die ihren Kindern erklären, es gäbe keinen Unterschied zwischen schwarz und weiß. Beides sei falsch, sagt Josephine Apraku, und es sei vor allem auch fatal, das zu behaupten. Weil man so den Rassismus, den schwarze Menschen tagtäglich erleben, negieren und ignorieren würde. Apraku weiß genau, wovon sie spricht. Sie ist Afrikawissenschafterin, Autorin und Trainerin für intersektionale, rassismuskritische Bildungsarbeit und hat das Instiut für diskriminierungsfreie Bildung in Berlin gegründet. Apraku leistet seit Jahren wichtige Aufklärungs- und Bildungsarbeit.
In ihrem Buch „Kluft und Liebe“ hat sich die 37-Jährige mit rassistischen Strukturen in Paarbeziehungen auseinandergesetzt und mit „Wie erkläre ich Kindern Rassismus“ einen Leitfaden für Eltern geschrieben, die ihre Kinder sensibilisieren möchten und dabei gleichzeitig sich selbst. Jetzt hat sie dieses Buch weiterentwickelt – zu einer Art Kartenspiel aus 60 bunten Karten. „Ich hatte die Idee, ein ,Workbook’ zu machen, das eine Mischung aus Lerntagebuch und Workshop ist. Und ein Kartenset, das etwa mit Kindern, im Freund*innenkreis oder in der Schule Gesprächsanlässe zu Rassismus bietet“, postete sie auf ihrem Instagram-Kanal. 18.000 Menschen folgen Apraku übrigens dort. „Diese neuen Formate laden dazu ein, die Auseinandersetzung mit Rassismus selbst aktiv zu gestalten und eigene Möglichkeiten zu finden, ihm entgegenzutreten.“
Aber wie ist das jetzt mit den Kindern und den Eltern? Wie nähert man sich dem Thema behutsam und vor allem richtig an? Eine korrekte Anleitung gebe es dafür nicht – man müsse jedenfalls nicht erschrecken, sagt Apraku in diversen Interviews, wenn die eigenen Kinder thematisieren, dass ein Mitschüler oder eine Freundin aus dem Kindergarten eine andere Hautfarbe hat als sie selbst. Dass Kinder irgendwann feststellen, dass andere Kinder nicht so aussehen wie sie selbst und auch darüber sprechen, das sei nämlich völlig normal. Problematisch würde es erst dann werden, wenn die Aussagen mit der Hierarchisierung von Gruppen verknüpft werden. Wichtig sei das Sensibilisieren aufs Thema jedenfalls schon im Kleinkindalter. „Wir kommen nicht darum herum, schon früh über Rassismus zu sprechen, und zwar so früh, wie BIPoC-Kinder (= Schwarze, indigene und People of Colour) von Rassismus betroffen sind“, schreibt Apraku in ihrem Buch. Und das ist meistens schon im Kleinkindalter, wie Studien belegen.
Eltern als Vorbilder
Wie früh Kinder rassistische Stereotype wahrnehmen und internalisieren können, das unterschätzen wahrscheinlich die meisten. Nämlich im Alter von drei Jahren, also dann, wenn die meisten Kinder noch nicht einmal richtig sprechen können. „Außerdem sind Kinder in diesem Alter bereits sensibel genug, um zu wissen, wo sie selbst in der Hierarchie einer Gruppe stehen“, sagt Apraku in der „Süddeutschen Zeitung.“ Sprich: Gehören sie zu einer gesellschaftlich eher akzeptierteren Schicht – oder eben nicht. Man muss also früh ansetzen – und genau darauf zielt auch Josephine Apraku ab. Dabei sei es aber nicht nur wichtig, dass man Kindern vorlese. Diverses und vielfältiges Spielzeug spiele eine genauso große Rolle und – wie so oft – die Vorbildwirkung der Eltern. Es sei wichtig, dass zuhause diskutiert wird und dass Mama oder Papa, vor allem, wenn sie diskriminierende Situationen erleben, klar Stellung beziehen. „Kinder saugen wahnsinnig viel aus ihrer Umgebung auf, gucken sich Sachen von anderen ab“, so Apraku in der „Süddeutschen Zeitung“ weiter. Dementsprechend auch von den eigenen Eltern.
Welche Auswirkungen rassisches Verhalten auf betroffene Kinder haben kann, belegen jedenfalls zahlreiche Studien, zum Beispiel jene der Soziologin Nkechi Madbuko. Diskriminierung verursacht körperliche Beschwerden – in Form von Unruhe, Schlaflosigkeit und Essstörungen, aber auch die seelischen Folgen sind enorm. Das eigene Selbstwertgefühl Betroffener leide massiv, sie können sich nicht mehr positiv wahrnehmen und sind verunsichert – was sich wiederum im verringerten Glauben an die eigenen Fähigkeiten und Chancen manifestiert.
Madbuko belegt auch, dass das Nicht-Reagieren und mangelnde Sensibilität der Erwachsenen diese Erfahrungen noch einmal verschlimmern können. Die Soziologin attestiert Fachkräften und Erwachsenen häufig „mangelnde Fähigkeit, Rassismus und seine Strukturen zu erkennen, sowie die Zuschreibung von Problemen auf Kind und dessen Familie.“ In der Gesellschaft selbst manifestiert sich die Diskriminierung außerdem noch in den geringeren Bildungschancen, die schwarze Menschen gegenüber weißen haben.
Bücher und Spiele wie das von Josephine Apraku sind jedenfalls ein richtiger Anfang – damit aus Kindern später keine Erwachsenen werden, die falsch reagieren, weil sie auf Diskriminierung und Rassismus nie sensibilisiert wurden. Apraku selbst nimmt übrigens alle in die Verantwortung – nicht nur weiße Menschen, zumindest mit ihrem Kartenspiel. „Mir ist wichtig, zu betonen, dass sich das Workbook und das Kartenset inhaltlich nicht vornehmlich an weiße Menschen richten. Insbesondere das Workbook ist so gestaltet, dass auch Menschen, die selbst Rassismus erfahren, Raum haben, um sich und das eigene Handeln selbst zu reflektieren. Mir ist das deshalb wichtig, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, dass das Lernen über Rassismus auch für Menschen, die ihn selbst erfahren, ein Prozess ist.“
Auch das postet Josephine Apraku auf ihrem Instagram-Kanal. Und wer weiß, vielleicht können wir uns irgendwann die eingangs gestellte Frage, wann wir zuletzt über Rassismus gesprochen haben, selbst stellen und mal anders als mit „Ich weiß es nicht“ beantworten. Auch als weiße Menschen.
Bücher
„Kluft und Liebe“: Eden Books – ein Verlag der Edel Verlagsgruppe,
288 Seiten, 2022, € 19
„Rassismus geht uns alle an“: Carlsen-Verlag,
48 Seiten, 2022, € 5,95