Digitaler Humanismus

Die Aufregung dieser Tage ist groß: Wie wird KI unsere Arbeit verändern? Wer verliert seinen Job? Ist die Art und Weise, wie wir die digitalen Werkzeuge einsetzen, wirklich im Sinne der Menschen, die sie nutzen? Genau an diesem Punkt kommt ein neuer Ansatz in Spiel: der Digitale Humanismus, bei dem der Mensch auch weiterhin im Zentrum steht.

In Zeiten von Arbeitnehmermarkt und allgegenwärtigem Fachkräftemangel hat gerade dieser Ansatz das Potential, im Human Resource Management (HRM) zu einem echten Gamechanger zu werden: der Digitale Humanismus.

Synonyme für den Begriff Digitaler Humanismus sind vielfältig. Die Investmentfirma Goodshares nennt ihn People, Planet, Profit. Der Bundesverband der Digitalwirtschaft in Deutschland spricht von CDR, eine logische Weiterentwicklung des Konzepts der Corporate Social Responsibility (CSR). Manche Firmen haben ihre eigenen digitalen Prinzipien bereits direkt in der Gesamtstrategie verankert, andere planen, ihre ESG-Initiativen (Environmental Social Governance) um ein „D“ (ESDG) für das Digitale auszuweiten.

Egal, wie wir es nennen, wichtig ist, was dabei unter dem Strich rauskommt: Die Technologie ist da, um die Menschen bei ihrer Arbeit zu unterstützen und ihnen zu dienen – und nicht umgekehrt. Aber welche Chancen gibt es? Was sind konkrete Anwendungsmöglichkeiten, und welche ethischen Überlegungen gilt es beim Einsatz künstlicher Intelligenz im HRM zu beachten?

20 Prozent gehen in Pension – und der Wissenstransfer?

An der WU Executive Academy haben wir uns in den letzten Wochen mit unseren Partnern KI-Systeme angesehen, die eine große Erleichterung für den Wissenstransfer bald ausscheidender Mitarbeiter:innen in Organisationen sein werden.

Hier ein Beispiel:

Anna ist 62 und wird nächstes Jahr in Pension gehen. Ein großer Verlust für ihre Firma, sie ist eine zentrale operative Kraft in der Buchhaltung, kennt alle Vorgänge und Prozesse und weiß, „wie es wirklich läuft“. Ihre Nachfolgerin ist noch gar nicht rekrutiert. In ihrem Arbeitsvertrag hat Anna eingewilligt, dass ein Teil ihrer geschuldeten Leistung die Weitergabe des beruflichen Know-hows ist.

Weiters gibt es eine Betriebsvereinbarung, dass ein von ihr lernendes digitales System sie bei allen Arbeitsschritten für ein Jahr begleiten darf, ohne eine ungebührliche Arbeitskontrolle zu generieren. Das Tool lernt von ihrer Arbeit, zeichnet reale Prozesse nach und bekommt immer wieder zusätzliche, erklärende Spracheingaben von Anna. Einmal im Monat kontrolliert Anna die Richtigkeit des Lernergebnisses.

Ihr/e Nachfolger:in wird so ein reales Abbild der tatsächlichen Arbeit als Einschulung erhalten, und Anna wiederum wird in ihrer Pension, basierend auf einer geringfügigen Weiterbeschäftigung, ihrer ehemaligen Firma zur Verfügung stehen, wenn ihr/e Nachfolger:in Bedarf an einem fachlichen Austausch, oder Fragen zu einem konkreten Arbeitsschritt hat.

Vielleicht aber schaffen wir mit Hilfe der Technik einen völlig anderen Weg.

Recruiting: Maschine gegen Maschine?

Die neue Wirklichkeit: Bewerber:innen senden KI-generierte CVs und Motivationsschreiben. In der Recruiting-Abteilung sieht kein Mensch diese Dokumente, auch hier entscheidet eine KI, ob der/die Bewerber:in eine Runde weiterkommt. Während wir verstehen, dass das für Unternehmen bei der Fülle an CVs, die sie oft bekommen, notwendig sein kann und vielleicht auch zur Reduktion von menschlichen Biases führt, stellt sich doch die Frage, ob es uneingeschränkt sinnvoll ist. Vielleicht aber schaffen wir mit Hilfe der Technik einen völlig anderen Weg.

Und so könnte dieser aussehen: Bewerber:innen generieren 30-Sekunden-Videos, um sich vorzustellen. Mit einem Wasserzeichen und einer staatlich gesicherten Identifikation (eiD) wird sichergestellt, dass das Video nicht von einer KI oder einer dritten Person generiert wurde. In einer halben Minute bekommt man einen ersten, guten Eindruck über die Person. Das können wir Menschen definitiv besser als eine Maschine. Die unterstützende KI gibt an, dass die angegebenen Daten die Stellenbeschreibungen matchen. Schließlich kommt es zu einem persönlichen Online- oder Offline-Treffen im Rahmen eines klassischen Recruiting-Prozesses.

Lerninhalte selbst mit geringem Aufwand erstellen

Ob Text, Audio, Video oder Bild: Mit neuartigen Services von Midjourney, OpenAI oder D-ID aus Israel wird die Planung und Umsetzung von Online-Lernen revolutioniert. Kostengünstige Produktion und jederzeit mögliche Veränderung eines digitalen Lerninhalts werden für HR-Manager:innen auch ohne Programmierkenntnisse möglich.

Das Auditorium wird künftig wählen können, ob es Vortragende im Hörsaal oder als Avatare erleben will.

In den nächsten Jahren werden sich die Angebote der klassischen Online-Lernplattformen und Content-Agenturen massiv weiterentwickeln. Auch unsere Vortragenden müssen in fünf Jahren nicht mehr „live“ vor 25 Personen in einem realen Raum Theorie vermitteln, sondern Teilnehmer:innen können wählen, ob sie die Vortragenden im Hörsaal erleben wollen oder über deren Avatare jederzeit online auf ihre aktuellen Inhalte interaktiv zugreifen möchten – eine enorme Verbesserung gegenüber den heutigen „statischen“ Videos und Podcasts.

Gute Software: Value-based Engineering

„Die Systeme, die wir als HR nutzen, stellt unsere IT zur Verfügung, da haben wir kaum Einfluss“. Würden Sie diesen Satz für Ihr Unternehmen auch unterschreiben? Im Rahmen des Digitalen Humanismus bieten sich neue Standards in der Konfiguration und Erstellung von Softwaresystemen an. Im Dreiklang von IT-Abteilung, HR und Vertreter:innen der späteren User werden dabei Systeme gemeinsam geplant, damit sie den ethischen Bedürfnissen aller Stakeholder entsprechen.

Bloß so zu tun als ob, könnte als „Human Washing“ enttarnt werden und einen negativen Effekt haben.

In diesem Prozess werden sogenannte Ethical Value Requirements definiert, die die Funktionen der späteren Systeme mitbestimmen. Dafür gibt es einen Standard und eine Zertifizierung. IT-Unternehmen, die UNO und auch die Stadt Wien verwenden bereits diesen neuen Standard. Die Beweggründe für Unternehmen können vielfältig sein: Das geht von tatsächlich empfundener ethischer Verantwortung der Manager:innen über Absicherung für spätere mediale oder rechtliche Konflikte bis hin zur Steigerung der Softwareakzeptanz und -Nutzung im Unternehmen.

Bei welcher Firma willst Du arbeiten?

Bewerber:innen, die zwischen zwei Firmen entscheiden können, fragen immer mehr nach der wahren Kultur der Firmen. Kununu und andere Dienste versuchen das abzubilden. Die Auszeichnung oder Zertifizierung als Unternehmen, das die Prinzipien des Digitalen Humanismus lebt, könnte hier eine Entscheidung für das eigene Unternehmen leichter machen. Ähnlich wie bei der ökologischen Verantwortung eines Unternehmens darf es aber kein Greenwashing geben, also mehr Schein als Sein. Nur so zu tun, als würde man die digitalen Werkzeuge mit Fokus auf den Menschen verwenden, könnte als „Humanism-Washing“ enttarnt werden und einen negativen Effekt haben.

Wie wird Ihre Firma dargestellt? Heute wird die Außenwahrnehmung eines Unternehmens stark durch journalistische Berichterstattung, die eigene Online-Präsenz und Kununu bestimmt. Versuchen Sie doch mal, ChatGPT danach zu fragen, ob Ihre Firma eine gute Arbeitgeberin für einen bestimmte Job-Rolle ist. Die KI ist offensichtlich bereits darauf trainiert zu sagen, dass sie das nicht abschließend beantworten könne, spuckt dann aber doch ca. 400 Worte darüber (in unserem Fall die WU Executive Academy) aus.

Die Fragestellung für HR-Manager:innen ist somit klar: Wie können wir in der Zukunft sicherstellen, dass die (richtige) Informationen über das eigene Unternehmen in das Trainingsmaterial der KI einfließen? Selbst technisch ist diese Frage noch unbeantwortet, eine aktive Auseinandersetzung zu dem Thema aber ab sofort hilfreich, um die Gefahr der unrichtigen oder tendenziösen KI-Angaben über das eigene Unternehmen in Zukunft zu reduzieren. Spannende Zeiten für HR-Manager:innen.

Über den/die Autor:in:

Barbara Stöttinger ist Dekanin der WU Executive Academy. Vor ihrer Zeit am Institut für Internationales Marketing Management war sie im Marketing eines internationalen Konsumgüterherstellers (Consumer Electronics) und in der Beratung tätig. Darüber hinaus arbeitet Barbara Stöttinger seit Jahren als Vortragende für Marketing und Internationales Marketing in Europa, Asien und Nordamerika und wurde mehrfach mit Teaching Awards ausgezeichnet.

Martin Giesswein unterrichtet Digitalökonomie und Leadership, ist Fakultätsmitglied der WU Executive Academy, Buchautor, Podcaster und Executive Sparring Partner. Giesswein ist Mit-Initiator der Community DigitalCity.Wien und war Co-Founder des Innovationscampus Talent Garden Wien.

artikel teilen

aktuelle artikel