„Ich bin körperlich eine Frau. Aber ich passe nicht in ein geschlechterstereotypes Bild von Frau”
Sigi, Dein Buch endet mit dem Satz: „Eine weniger genderstereotype Welt hätte mir viel Leid erspart. Ich hätte weniger Störgefühle entwickelt und mir vielleicht gar nicht erst gewünscht, ein Junge zu sein.“ Inwieweit hat Dich Deine eigene Erfahrung für das Thema Geschlechtergerechtigkeit sensibilisiert?
Sehr. Als Kind wollte ich ein Junge sein. Ich habe im Kindergarten nur mit Jungs gespielt. Röcke fand ich doof, weil sie mich beim Spielen störten. Puppen oder Mamas Küche haben mich nie interessiert. Lego, Bauklötze, Kräfte messen und Papas Werkstatt dagegen sehr. Dabei wurde mir immer wieder vermittelt, was ich tun oder lassen soll, weil ich ein Mädchen bin. Kein Wunder, dass George, die Heldin aus Enid Blytons „Fünf Freunde“ mein Kinderidol wurde, das Mädchen, das ein Junge sein wollte.
Wie ging es weiter?
In der Grundschule wollten die Jungs nicht mehr mit mir spielen, weil ich ein Mädchen war. Das war schlimm. Von Fremden wurde ich für einen Jungen gehalten. Das war gut. In meiner Jugend rebellierte ich viel und zog sofort nach dem Abitur in die Großstadt. Als Studentin und junge Berufstätige in der Großstadt fühlte ich mich halbwegs gleichberechtigt. Das änderte sich rapide, als ich mit 31 Mutter wurde. Der gesellschaftliche Druck, bestimmte Rollenbilder zu erfüllen, war enorm. Dabei können sich Männer ebenso gut um Kinder kümmern wie Frauen. Hier ist noch viel Luft nach oben, hin zu einem egalitären Geschlechterverhältnis.
Wie würdest Du Dein eigenes Geschlecht beschreiben?
Ich bin körperlich eine Frau. Aber ich passe nicht in ein geschlechterstereotypes Bild von Frau. In meinem Buch habe ich die Frage gestellt: Vielleicht bin ich trans und habe es 50 Jahre nicht gemerkt? Hätte ich damals etwas über Transsexualität gewusst, wäre das eine Option gewesen. Heute denke ich, das Problem ist nicht mein Körper. Das Problem sind stereotype gesellschaftliche Erwartungen. Auch heute gerate ich regelmäßig in Konflikt mit den Erwartungen, die – oft genug unbewusst – an eine weiblich gelesene Person gestellt werden.
Gibt es denn “typisch weiblich, typisch männlich”?
Vermutlich gibt es Menschen, die von sich sagen, sie seien typisch für ihr Geschlecht. Aber letztlich heißt das doch nur, dass ihr Wesen zu den geschlechterstereotypen Erwartungen passt. Das ist völlig in Ordnung. Nur passt das eben für viele andere nicht. Wesenszüge sind ungeschlechtlich. Laut oder leise, durchsetzungs- oder anpassungsorientiert sind Männer wie Frauen und sie sollten es sein dürfen, ohne dafür als nicht Mann oder nicht Frau genug kritisiert zu werden.
Was würdest Du ankreuzen: Mann, Frau oder Divers?
Frau. Das entspricht meinem Körpergeschlecht und meinem Personenstand, nicht unbedingt meiner Identität.
Was hat Dich motiviert, dieses Buch zu schreiben?
Es ist mein Lebensthema. Wer immer wieder kritisiert wird, gibt sich oft selbst die Schuld, denkt, dass etwas mit der eigenen Persönlichkeit nicht stimmt. Das ist schmerzhaft. Ich dachte so etwas lange auch. Ich bin überzeugt, dass auch Männer darunter leiden, wie ein “echter” Mann sein zu sollen, wenn das einfach nicht passt. Das ist die Motivation für mein Buch. Und das hat viel mit trans, inter oder nicht-binär zu tun.
Welche sind beim Thema Geschlecht die wichtigsten Begriffe, die wir kennen sollten?
Unter anderem die, die ich eben genannt habe. Ich finde es wichtig, wieder genauer zwischen Sex, also dem Körpergeschlecht, und Gender, dem sozialen Geschlecht, der Geschlechterrolle oder Geschlechtsidentität zu unterscheiden.
Wichtig finde ich außerdem, zwischen inter und trans zu unterscheiden. Interpersonen werden mit gemischtgeschlechtlichen Körpern geboren. Zum Beispiel werden Personen mit vollständiger Androgenresistenz (CAIS) als Mädchen wahrgenommen, weil sie mit Vulva geboren werden. Tatsächlich haben sie XY-Chromosomen und die Hoden liegen unsichtbar im Körper. CAIS fällt mitunter erst in der Pubertät auf, weil die Menstruation nicht eintritt. Umgekehrt werden Klinefelter, das sind Menschen mit mindestens zwei X- und mindestens einem Y-Chromosom, als Jungs registriert und bilden in der Pubertät, wenn sie nicht durch Hormongaben vermännlicht werden, häufig einen Busen aus. Darüber hinaus gibt es noch viele andere Varianten.
Davon zu unterscheiden sind Transpersonen. Die sind körperlich meistens eindeutig männlich oder weiblich, lehnen ihr Geburtsgeschlecht jedoch ab und fühlen sich entweder dem anderen binären Geschlecht zugehörig oder keinem der beiden, also nicht-binär.
Detrans wiederum bedeutet, dass eine Person, die eine Transition – eine Angleichung hin zu einem anderen Geschlecht – begonnen hat, diese wieder rückgängig macht, soweit dies medizinisch möglich ist. Der Stimmbruch zum Beispiel ist irreversibel, ebenso wie eine Mastektomie, also die Entfernung der Brust.
In Deinem Buch erzählst du viele konkrete Fälle. Ist Dir eine Person besonders in Erinnerung geblieben?
Im Grunde ist jede Geschichte für sich berührend. Ich habe mit mehreren männlich geborenen Personen gesprochen, denen die Männlichkeit förmlich eingeprügelt werden sollte. Besonders Interpersonen fühlen sich oft von der Medizin missbraucht, weil sie, ohne dass sie gefragt wurden, geschlechtszuweisend operiert wurden. Das war jahrelang gängige Praxis und wurde erst 2021 verboten.
Es gibt regelmäßig emotional geführte Debatten zum Thema Geschlecht.
Das liegt daran, dass es uns alle betrifft. Wir alle haben ein Geschlecht und unsere Gesellschaft ist in ihren Rechten, Regeln und Räumen nach Geschlecht organisiert. Dabei schwebt über allem eine patriarchale Diskriminierung, die der einen Hälfte weniger Macht, Geld und Raum zuspricht als der anderen. Pierre Bourdieu beschreibt in seinem Buch „Die männliche Herrschaft“, dass wir viele kulturelle Normen so verinnerlicht haben, dass wir sie für natürlich halten, obwohl sie es nicht sind. Und weil spätestens mit der Geburt eine geschlechtsspezifische Sozialisation beginnt, ist es schwer, mit Sicherheit zu sagen, was natürlich gegeben und was kulturell erzeugt ist.
Wieso ist das ein Problem?
Wir erzeugen also einerseits kulturell künstliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen und üben damit Druck auf Menschen aus, die dieser kulturellen Norm nicht entsprechen. Andererseits ignorieren wir tatsächliche natürliche Unterschiede und tun so, als seien Frauen kleine Männer. Was erwiesenermaßen falsch ist. Zum Beispiel in der Medizin, wo Frauen häufiger an Herzinfarkt sterben, weil nur Männersymptome gelehrt werden. Oder bei Landmaschinen und Werkzeugen, die für Männerhände optimiert sind, die nicht nur größer sind, sondern auch mehr Kraft haben. Das macht Frauen die Arbeit unnötig schwerer.
Zum kulturellen Faktor gehört auch die Sprache. Bevor wir übers Gendern sprechen – wie wichtig ist Sprache generell in diesem Gefüge?
Sprache ist unser wichtigstes Werkzeug, um anderen von unserem Welterleben zu erzählen. Über Sprache lernen wir die Bedeutung unserer Umwelt und unserer Kultur. Und wir erzeugen Bilder in den Köpfen anderer. Sprache und gesellschaftliche Wirklichkeit beeinflussen sich gegenseitig.
Luise F. Pusch hat in „Das Deutsche als Männersprache“ gezeigt, wie sich das Patriarchat in der Sprache niederschlägt, Frauen marginalisiert und abwertet. 40 Jahre Forschung haben wertvolle Erkenntnisse zu diesen Thesen der feministischen Linguistik erbracht. Wenn wir nur von Ingenieuren und Polizisten reden, erzeugen wir ein männliches Bias in den Köpfen.
In der Sprache gibt es aber noch viel mehr Patriarchat. Besonders erschreckend ist das Kinderfernsehen: Sprechende Tiere, Pflanzen oder Maschinen bekommen zu über 80 Prozent männliche Stimmen, hat die Malisa-Stiftung herausgefunden. Außerdem ist das Spielfeld für weibliche Figuren deutlich enger als das für männliche. Weibliche Figuren treten als hilflose Wesen auf, die gerettet werden, als schöne Prinzessin, als Hexe oder als mütterliche Figur. Dabei haben die Hexen noch die spannendsten Lebensgeschichten. Die sind wenigstens aktiv und ihr Leben ist nicht nach einer Hochzeit zu Ende erzählt, wie bei den Prinzessinnen.
Wie macht man es besser?
Ich denke, wir müssen uns klarmachen, dass viele Stereotype unbewusst sind. Wir kriegen es selbst oft gar nicht mit, dass wir das Patriarchat ständig reproduzieren. Eine Möglichkeit, den eigenen Mustern auf die Spur zu kommen, ist es, sich selbst beim Denken zuzuhören. Wenn Du denkst: „Die Luna ist bei uns der Junge. Sie ist die beste Torschützin.“ Oder: „Der Max ist unser Mädchen, er strickt für sein Leben gern.“ – dann sollten die Alarmglocken schrillen. Luna ist Fußballheldin und ein Mädchen. Max ist Strickkönig und eine Junge. Kein Problem, wenn wir keines daraus machen. Wenn wir Stereotype abbauen, helfen wir unseren Kindern, frei nach ihren Interessen aufzuwachsen.
Wie hältst Du es mit dem Gendern?
Ich habe mir angewöhnt, möglichst neutral zu sprechen, also unnötige Geschlechtermarkierungen zu vermeiden. Die deutsche Sprache ist sehr beweglich und bietet viele Möglichkeiten. Wenn ich Geschlechter benenne, nutze ich sowohl den Genderstern wie auch die Beidnennung. Das kommt ganz auf den Kontext an, was mir sinnvoller erscheint. Manchmal erlaube ich mir auch ein generisches Femininum.
Was, wenn ich als Privatperson oder Unternehmen gendern will, aber nicht so recht weiß, wie?
Das Wichtigste: Vermeide es, nur über Männer zu reden, wenn du nicht nur Männer meinst. Es gibt viele Websites, Blogs, Podcasts, Bücher oder Workshops, um einen Einstieg zu finden. Es ist oft einfacher, als viele denken: Statt „Ahmed und Julia sind leidenschaftliche Gärtner”, “… Gärtnerinnen und Gärtner” oder “… Gärtner*innen“ kann ich sagen: „Ahmed und Julia gärtnern leidenschaftlich gerne.“ Empfehlen möchte ich die Website genderleicht.de. Auch in meinem Blog finden sich einige Artikel zum Thema. Einfach mal probieren. Vieles kommt mit der Gewöhnung und der Übung.
Findest Du die Aufregung ums Gendern berechtigt?
Ich verstehe den emotionalen Charakter der Debatte. Sprache ist etwas sehr Persönliches. Und wir lassen uns da nicht gerne reinreden. Ich auch nicht.
Du hast geschrieben: “Ich bin mit 52 viel selbstbewusster als mit 25 und denke, es ist nicht meine Aufgabe, Geschlechtsstereotypen zu entsprechen.” Macht das Alter gelassener?
Mich auf jeden Fall. Auch bei Freundinnen höre ich immer wieder: Ich will mich nicht mehr verbiegen, um den Erwartungen anderer zu entsprechen. Vielleicht hat das bei Frauen auch etwas mit der Menopause zu tun, ich weiß es nicht. Auf der einen Seite werden alternde Frauen als nicht mehr so attraktiv wahrgenommen. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass sie weniger als Sex-Objekt und mehr als handelndes Subjekt gesehen werden.
Wenn die Leser*innen nur eine Sache aus diesem Gespräch mit in ihren Alltag nehmen sollten, welche wäre das?
Ich würde mich freuen, wenn sie sich eingeladen fühlen, dem eigenen Denken, den eigenen Stereotypen auf den Grund zu gehen, und ihre Sprache und ihr Handeln dann so ausrichten, dass es ihren eigenen Werten entspricht, nicht ihren unbewussten Stereotypen.
Das Interview führte Julia Hägele.
Über die Person
Sigi Lieb studierte Diplom-Sozialwissenschaften an der FAU Erlangen-Nürnberg mit interkulturellem Schwerpunkt und volontierte bei der Deutschen Welle in Köln, Bonn und Berlin. Nach Jahren als Journalistin und PR-Beraterin arbeitet sie heute als Beraterin und Trainerin für inklusive, geschlechtersensible und diskriminierungsarme Kommunikation. Auf ihrem Blog veröffentlicht sie Beiträge rund um Gender, Diversity, Sprache und demokratischer Debattenkultur. Köln ist die Wahlheimat der gebürtigen Oberfränkin.
Sigi Lieb ist am 13. Oktober 2023 zu Gast beim Authors-MeetUp auf der herCAREER Expo.
Der Beitrag ist Teil einer Content Kooperation von Weconomy & herCAREER und wurde zuvor bereits auf www.her-career.com veröffentlicht.