Hermann Sporrer: Wenn sich Unternehmen mit dem Thema ESG auseinandersetzen, sind sie meist stark auf das „E“, also den Environmental-Aspekt, fokussiert. Mit „S“ für Social und „G“ für Governance gibt es allerdings noch zwei weitere wesentliche Kriterien, die für den nachhaltigkeitsbezogenen Verantwortungsbereich von Unternehmen relevant sind. Angekommen ist das bisher allerdings bei den wenigsten. Wie siehst du das?
Marita Haas: Da muss man vorab vielleicht mal die Frage stellen: Warum haben Unternehmen aktuell das Bedürfnis beziehungsweise kommen unter Zugzwang auch bei den anderen beiden Aspekten etwas verändern zu müssen? Also aktuell kommt der Druck da meist aus drei Richtungen.
Erstens: Von Seiten des Vorstands oder Aufsichtsrats, der sagt „Wir müssen da jetzt etwas verändern, wir müssen uns zeitgemäß aufstellen, wir wollen anders agieren.“ Oder zweitens: Von unten, also Bottom-up. Die Mitarbeiter:innen oder auch die Kandidat:innen auf dem Markt sagen „Ich suche einen Arbeitgeber, eine Arbeitgeberin, die insgesamt divers aufgestellt ist.“ Bei der Generation Z, die jetzt auf den Markt drängt, kann man das gut beobachten. Und drittens: Aus den HR-Abteilungen, die darauf bedacht sind, gute Leute nicht nur zu gewinnen, sondern auch langfristig zu halten.
Aus meiner Beratungstätigkeit kann ich berichten, dass der Top-down-Approach, also wenn vom Management konkrete Zahlen und Ziele vorgegeben werden, der zielführendste ist, um nachhaltige und auch strukturelle Veränderungen in Unternehmen zu erwirken.
HS: Dass mit den neuen ESG Richtlinien einiges an externer Druck auf Unternehmen zukommt, ist klar. Jedes Unternehmen in Europa, das mehr als 250 Mitarbeiter hat beziehungsweise eine Bilanzsumme von 20 Millionen, und das sind doch ein paar, sind ab 2025 dazu verpflichtet, ihre S & G Ziele zu reporten. Wer das nicht auf der Agenda hat und spätestens im kommenden Jahr mit der Erhebung beginnt, der könnte bald vor einem massiven Problem stehen. 2024 ist ja schon bald. Haben wir da einen Riesen-Issue in Österreich?
MH: Ja, definitiv. Wenn man sich ansieht, wie wenige weibliche Personen sich in den Top 200 Unternehmen auf Vorstandsebene befinden. Im Moment sind es sieben beziehungsweise neun Prozent. Das ist wenig. Einer der Gründe dafür ist, dass über Jahrzehnte hinweg auf Initiativen mit falschen Hebeln gesetzt wurde. Stichwort: Frauennetzwerke, Frauen-Förderprogramme.
Mit dem Gedanken, dass wenn wir Frauen genug stärken, dann kommen sie irgendwann auch in Entscheidungspositionen. Diese Annahme war falsch. Davor hätte man sich besser mal ansehen sollen: In welcher Art und Weise Leistung in Unternehmen überhaupt bewertet wird. Wie schauen Promotions-Prozesse aus? Warum kommt jemand in welche Position? Was wird dabei berücksichtigt? Und: Wie kommt es also zum sogenannten Promotion-Gap? Und natürlich gibt es großen Aufholbedarf, sich überhaupt einmal damit auseinanderzusetzen, wo diskriminieren wir oder wo schaffen wir Barrieren für bestimmte Personengruppen und wo rekrutieren und fördern wir immer die Gleichen?
Zusammenfassend kann ich sagen, wir stehen noch relativ am Anfang. Egal wie groß Unternehmen sind oder in welcher Branche, ob NGO oder Industriebetrieb. Im Grunde ist es immer das gleiche Bild. Je weiter oben in der Hierarchie, desto ähnlicher werden die auf dieser Ebene vertretenen Personen.
Ich habe zuletzt mit einem Unternehmen gearbeitet, das im Bereich IT-Beratung tätig war. Dort gab es 35 Führungskräfte und von diesen waren ganze zwei weiblich. Das eigentliche Highlight war aber, dass es in dieser Führungsriege drei Christians und drei Andrease gegeben hat.
Mein Gegenüber in Firmen sind meist Männer mittleren Alters, ohne Migrationshintergrund, die eine sehr lineare Karriere absolviert haben. Also eigentlich immer die gleichen Personen. Das heißt: In den meisten Fällen ist die gesamte Entscheidungsebene nicht divers.
Um da strukturelle Veränderungen zu erzielen, muss man sich der Gesamtbelegschaft widmen und für Mitarbeiter:innen auf jeder Stufe gleiche Teilhabechancen bieten. Nur dann wird sich das auch in Führungspositionen strukturell niederschlagen. Und: Das wird eine große Challenge, die uns wahrscheinlich noch die nächsten fünf – zehn Jahre beschäftigen wird.
HS: Im Moment gibt es eine Verschiebung vom Arbeitgeber- hin zum Arbeitnehmermarkt. Könnte demzufolge ein gelungenes Diversitätsmanagement für Unternehmen nicht auch einen Wettbewerbsvorteil mit sich bringen?
MH: Die Arbeitnehmer:innen-Generation, die jetzt nachkommt, stellt sehr viele Ansprüche, hat ganz konkrete Wünsche an Arbeitgeber:innen. Dennoch wäre es nicht unbedingt richtig, auf all diese individuellen Wünsche zu reagieren. Was es braucht, ist eine klare Haltung der Unternehmen und klar kommunizierte Werte. Was ist uns wichtig und warum ist es uns wichtig?
Das Thema Arbeitszeit und 4-Tage-Woche sind ein gutes Beispiel. Dafür sind strukturelle Veränderungen notwendig, die meist auch Zeit brauchen – Umstellung von Verträgen, Umstellung von Zeiterfassungssystemen, Überlegungen für wen welches Modell passend ist, wie ich den Prozess gestalten kann etc.
Bei der Generation Z gibt es einen klaren Wunsch nach Arbeitgeberinnen, die nachhaltige Ziele verfolgen. Das fängt mit dem E-Ziel der ESG-Ziele an. Welches Unternehmen schaut wirklich drauf, dass wir gesamtgesellschaftlich in Zukunft gut aufgestellt sind und wir nach wie vor auf diesem Planeten leben können.
Mindestens genauso wichtig ist ihnen, wie divers die Belegschaft und vor allem auch das Management aufgestellt ist. Das heißt: Die Erwartung auf Arbeitgeber:innen zu treffen, für die Diversität, nachhaltige Arbeitsplätze und faire Bedingungen eine große Rolle spielen, ist definitiv da.
HS: Worauf müssen sich Arbeitgeber:innen in Zukunft vorbereiten, um attraktiv zu bleiben? Worauf kommt es an?
MH: Das Thema Partizipation ist sicher ein ganz wesentlicher Punkt. Die nachkommende Generation, eigentlich schon die Millennials, aber jetzt auch eben die Post-Millennials, wünschen sich viel mehr Partizipation. Das heißt: Unternehmen muss es gelingen, Strukturen agiler aufzustellen, um flexibler darauf reagieren zu können, welche Kompetenzen eine Person mitbringt.
Um wieder ein Beispiel aus der Praxis zu nennen: Ein kleines Umwelt-Technik-Unternehmen mit drei Männern in Entscheidungspositionen hat aus einem Gender-Equality-Bewusstsein heraus viele junge Frauen ins Team geholt. In Folge musste eine Strategie entwickelt werden, wie man diese in entscheidungstragende Positionen bringt. Den Männern war klar, dass sie sich aus ihrer Position der Seniorität nicht unmittelbar zurückziehen können, aber bei den jungen, nachkommenden Personen Schritt für Schritt eine Expertise für eine leitende Funktion aufzubauen.
Um dieses Ziel zu erreichen, haben sie einen, von der Hierarchie unabhängigen, partizipativen Organisations-ThinkTank ins Leben gerufen. Darin waren unterschiedliche Personen aus allen Hierarchieebenen vertreten: Junge und Ältere, Frauen und Männer. Man hat sich gemeinsam überlegt: Wie wollen wir uns aufstellen, um zukunftsfit zu sein? Entscheidungen wurden aus der Gruppe heraus getroffen und eben nicht mehr über die Hierarchie. Bei Partizipation geht es um die Möglichkeit, etwas mitzugestalten.
HS: In vielen Organisationen wird das Thema ESG primär von den HR Abteilungen vorangetrieben und verantwortet. Reicht das?
MH: Diese Verantwortung kann eigentlich immer nur eine Führungskraft übernehmen. Diese muss sich überlegen, wie sie es schafft, dass alle Mitarbeiter:innen die gleichen Karrierechancen haben. Wie mache ich das bei Beförderungen? Bei Projekten? In Meetings? Wie schaffe ich eine Kultur, eine Struktur, wo alle die Chance haben, gleich mitzureden und gleich weiterzukommen. In hierarchisch strukturierten Unternehmen geht das nur über Top-Down-Prozesse.
In großen Unternehmen findet man inzwischen, was die Basis der Belegschaft betrifft, oft schon sehr diverse Teams. Da wurde meist im Recruiting darauf geschaut, wie sich die Teams zusammensetzen. Ganz anders entwickelt sich das Bild, wenn es weitergeht. Wer wird der, die nächste Abteilungsleitung? Dort sind dann eigentlich diese großen Diversity Gaps zu finden und diese kann man tatsächlich nur verändern, wenn man strukturelle Veränderungen anstößt. Zum Beispiel indem man die Nominierungs- und Auswahlprozesse für Führungspositionen neu aufsetzt.
HS: Stichwort Karenz: Das ist in diesem Zusammenhang ein ziemlich neuralgisches Thema, zu dem es auch zahlreiche Studien gibt. Was wäre hier ein neuer Ansatz?
MH: Das Thema Karenz wird in vielen Organisationen noch immer primär als unangenehmer organisatorischer Mehraufwand betrachtet, der mit einer gewissen Planungsunsicherheit einhergeht: Ein:e Mitarbeiter:in fällt für 6, 12 oder 18 Monate aus, wann und wie kommt sie danach wieder?
Um adäquat auf die Entwicklungen der vergangenen Jahre zu reagieren, müsste man sich aus Unternehmensperspektive heute eigentlich überlegen, wie man mit dem Thema Auszeiten ganz generell umgeht. Diese quasi als etwas ganz Normales anzusehen. Mitarbeiter:innen brauchen Auszeiten aus unterschiedlichen Gründen. Manchmal ist es, wie bei der klassischen Karenz, die familiäre Situation, manchmal sind es physische oder psychische Gegebenheiten, der Wunsch nach Weiterbildung oder aber einfach, dass man sich ein halbes Jahr Auszeit vom Job gönnen und zum Beispiel reisen möchte. Dafür braucht es ein sinnvolles Auszeiten-Management. Dann wiegt der Vorbehalt, dass die Frauen immer in Karenz gehen, gar nicht mehr so stark.
Als positives Beispiel fällt mir hier immer Accenture ein. Accenture hat vor ein paar Jahren einen sogenannten Vertragskonfigurator entwickelt, in dem die Mitarbeiter:innen spezifische Wünsche / Vertragsvarianten eingeben können. Wie wäre es, wenn ich im nächsten Jahr nur 20 Stunden arbeiten möchte, oder was wäre, wenn ich im Sommer längere Auszeit haben will, wie wirkt sich das auf mein Gehalt aus etc. Dabei kann man verschiedene Modelle ausprobieren, bis ein perfektes Paket gefunden wurde, das zu einem passt. Im Anschluss kann ich das ohne Abstimmung mit der Führungskraft direkt an die Personalabteilung schicken. Das geht mit einer Vorlaufzeit von drei Monaten auch durch.
In dem Zusammenhang hat es auch innerhalb der Organisation, so hat es mir die Personalleiterin berichtet, Bedenken oder Vorbehalte gegeben, ob dann überhaupt noch jemand arbeiten möchte. ” Das war natürlich nicht der Fall. In der Pilotphase haben etwa 8 bis 10 Prozent der Belegschaft das Angebot genutzt. Aber das Feedback auf die Maßnahme war extrem positiv mit dem Tenor – ich muss mir keinen anderen Job suchen, wenn sich etwas bei meinen Lebensumständen ändert, sondern kann einfach für einen bestimmten Zeitraum meine Arbeit so gestalten, dass sie gut zu meinem Leben passt. anders machen. Meiner Ansicht nach ist das ein sehr zukunftsträchtiges Modell.
Ansonsten ist es oft so, wenn jemand Arbeitszeit erhöht oder reduziert, dann kommt es hauptsächlich auf das Verhandlungsgeschick und die Dynamik zwischen Führungskraft und Mitarbeiter:innen an. Durch fixe Strukturen und Prozesse kann man das entschärfen. Organisationen müssen für sie passende Systeme aufbauen, mit dem Ziel, Kandidat:innen attraktive Arbeitsplätze zu bieten, die wiederum dazu führen, dass ganz unterschiedliche Menschen in den Unternehmen arbeiten möchten.
Die größte Herausforderung für mich als Beraterin ist es, klarzustellen, dass es mit netten Diversity Programmen einfach nicht getan ist. Es geht im Kern darum, Strukturen und Prozesse zu verändern, um gemeinsam mit den Unternehmen die Arbeitsplätze der Zukunft zu gestalten.
Zur Person
Marita Haas leitet bei Ward Howell International den Beratungsschwerpunkt People, Culture & Organization Advisory. Dieser umfasst unter anderem die Begleitung von Unternehmen bei Change Prozessen in Richtung inklusive Organisationen, Strategie- und Organisationsentwicklung sowie Executive Coaching und Leadership Consulting. Die Gender- und Diversitäts-Expertin war über viele Jahre im universitären Umfeld und der Forschung tätig und hat im Laufe ihrer Karriere zahlreiche Unternehmen bei der Weiterentwicklung in faire und inklusive Organisationen begleitet. Haas positioniert sich gegen herkömmliche Gender- und Diversitäts-Programme in Unternehmen und setzt sich für die Veränderung von Strukturen und Prozessen ein.