Hand aufs Herz, Herr Younosi: Warum engagieren Sie sich für Diversität?
Cawa Younosi: Im Laufe meines Lebens habe ich erkannt, wie viele Talente und Potenziale ungenutzt bleiben, wenn Menschen nicht die Gelegenheit erhalten, sich selbst zu entfalten. Insbesondere im beruflichen Umfeld ist es eine Frage der Fairness und des Anstands, allen Menschen die gleichen Chancen zu bieten. Der Vorteil davon ist: Wenn man das macht, tut man nicht nur sich selbst, sondern auch der Gesellschaft einen Gefallen.
Wünschen Sie sich mehr männliche Mitstreiter?
Absolut. Es ist entscheidend, sich bewusst zu machen, dass Diversität und Inklusion keine Themen sind, die ausschließlich Frauen oder marginalisierte Gruppen betreffen. Wenn ich über Gender-Diversität, die Förderung von Frauen im Berufsleben oder in Führungspositionen spreche, handelt es sich um Themen, die uns alle angehen. Noch immer sind viele Männer in machtvollen Positionen. Sie haben die Möglichkeit, bestehende strukturelle Ungleichheiten entweder zu zementieren oder aktiv zu verändern. Wir benötigen Männer, die bereit sind, diese Barrieren abzubauen und den Weg für andere Geschlechter zu ebnen.
Wie schafft man es, mehr Männer für das Thema zu motivieren?
Es gelingt mir oft besser, mit einem Appell an Anstand und Werte zu überzeugen als mit Zahlen und Fakten. Wenn ich beispielsweise zu einem CEO sage: „Du möchtest doch auch, dass deine Tochter die gleichen Chancen hat wie dein Sohn“, trifft das häufig besonders gut. Wir alle wünschen uns, dass Potenzial und Leistung entscheidend sind, doch wir wissen auch, dass nicht jeder die gleichen Voraussetzungen mitbringt. Die Statistiken sprechen für sich: Von 100 Kindern, die die Grundschule besuchen, schaffen nur 25 aus nicht-akademischen Familien das Abitur. Das liegt nicht daran, dass sie weniger intelligent sind, sondern weil sie mit einem schwierigeren Start ins Leben konfrontiert werden als Kinder aus akademischen Haushalten. Es geht nicht darum, dass jeder das Abitur machen muss, sondern es verdeutlicht, wie entscheidend die Ausgangssituation für den späteren Erfolg ist.
Inwiefern haben sich die Anforderungen an Diversity-Programme in Unternehmen verändert?
Im Unternehmenskontext glaube ich, dass die Zeiten vorbei sind, in denen Frauenförderprogramme aufgesetzt und diese mit Sekt und ansprechenden Bildern für Social Media inszeniert wurden. Das liegt daran, dass viele Unternehmen eine neue Stufe der Entwicklung erreicht haben. Diversität kann nicht mehr nur auf das Verhältnis von Männern und Frauen beschränkt werden, sie muss in allen sieben Dimensionen betrachtet werden. Trotzdem gibt es leider immer noch Unternehmen, die Diversität in wirtschaftlich schwierigen Zeiten als etwas betrachten, das „nice to have“ oder verhandelbar ist, anstatt es als essenzielle Voraussetzung für nachhaltigen Erfolg zu sehen.
Wie kommt es dazu?
In Deutschland beobachten wir, dass Projekte, die sich verschieben lassen, oft auch tatsächlich verschoben werden. Wenn auf der einen Seite Programme initiiert werden, während auf der anderen Seite Mitarbeitende entlassen werden müssen, ist das für Unternehmen schwer zu vermitteln. Leider lassen populistische Parteien wie die AfD und bestimmte politische Strömungen eine pluralistische Gesellschaft schlecht aussehen. Das zeigen aktuell wieder besonders die Migrationsdebatten. Umso wichtiger ist es, dass Unternehmen gemeinsam mit der Charta der Vielfalt unsere pluralistische Gesellschaft als Bereicherung und nicht als Belastung vermitteln.
Was können wir gegen rechtsextreme Parteien tun?
Wir müssen uns entschieden gegen rechtsextreme Parteien positionieren – als Einzelpersonen, als Charta der Vielfalt und als Unternehmen. Wenn Menschen offen diskriminiert werden, weil sie nicht in bestimmte Stereotypen passen, ist das nicht nur schädlich für eine freie Gesellschaft, sondern auch für die Wirtschaft. Deutschland ist auf Zuwanderung angewiesen; der Fachkräftemangel ist eine Realität, die wir nicht ignorieren können. Natürlich benötigen wir eine gezielte Zuwanderung, aber es ist unerlässlich, dass wir diese Zuwanderung auch fördern. Darüber hinaus müssen wir deutlich mehr in die Entwicklung und Bindung der Talente investieren, die bereits in unserem Land leben. Immerhin gibt es in Deutschland 2,3 Millionen Menschen ohne Berufsabschluss – das sind fast mehr Personen als offene Stellen.
“Diversität bedeutet erstmal Konflikte, Reibung. Es liegt an uns, diese Reibungen in etwas Positives zu verwandeln.”
Wo findet Diversität in einer Wirtschaftskrise noch Platz?
In Zeiten radikalen Wandels entstehen stets unterschiedliche Bewegungen. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die alles niederreißen wollen, während auf der anderen Seite die Gegenbewegung umso lauter und klarer werden muss. Ich bin überzeugt, dass wir etwa 50 Prozent der Menschen zurückgewinnen können, die sich populistischen Strömungen zugewandt haben. Das ist jedoch nicht nur eine Aufgabe für Unternehmen oder die Charta der Vielfalt, es erfordert auch eine Politik, die eine optimistische Vision einer pluralistischen Gesellschaft vermittelt und die Menschen begeistert. In den letzten Jahren wurde der Diskurs häufig aus einer defizitären Perspektive betrachtet. Diversität bedeutet erstmal Konflikte, Reibung. Es liegt an der Gesellschaft, am Diversity-Management in Unternehmen und in der Politik, diese Reibungen in etwas Positives zu verwandeln.
Große Firmen wie Microsoft und Google fahren ihre Budgets für Diversität zurück. Was sagen Sie dazu?
In den USA beobachten wir eine ausgeprägte „Anti-Woke“-Bewegung. Berichten zufolge üben rechte Parteien auf Unternehmen wie Ford, Harley Davidson und John Deere großen Druck aus. Das spiegelt auch die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA wider. In solchen Zeiten ist es entscheidend, dass Unternehmen über ein starkes Management und engagierte Eigentümer:innen verfügen, die auch in Krisensituationen zu ihren Werten stehen und bereit sind, gegebenenfalls auf Umsatz und Gewinn zu verzichten. In Deutschland hingegen ist ein solches Phänomen glücklicherweise bislang nicht in gleichem Maße erkennbar.
Welche Rolle spielt Politik am Arbeitsplatz?
Die Wahlen in Ostdeutschland und die Europawahl geben uns Grund zur Sorge. Sie geben uns aber auch eine ganz klare Aufgabe: Wir müssen das Thema Demokratie am Arbeitsplatz stärken. Um Populismus effektiv zu bekämpfen, ist es entscheidend, das Thema auf einer persönlichen Ebene zu diskutieren. Statt abstrakt über „die Migranten“ zu sprechen, sollten wir darüber reflektieren, welche Auswirkungen bestimmte Entscheidungen auf unsere Kolleg:innen wie Fatima oder Mehmet haben. Diese Namen stehen nicht für anonyme Figuren, sondern für Menschen, mit denen wir tagtäglich zusammenarbeiten. Das gleiche Prinzip gilt für europäische Themen: Wir müssen in Unternehmen darüber sprechen, welche Folgen es hätte, wenn Deutschland nicht mehr Teil der EU wäre. Solche Diskussionen eröffnen neue Perspektiven und erreichen die Menschen viel besser als Debatten auf Marktplätzen oder in sozialen Medien. Als Charta der Vielfalt möchten wir durch gezielte Veranstaltungen aktiv werden.
ZUR PERSON
Cawa Younosi (48) ist seit 1. September Geschäftsführer der Arbeitgebendeninitiative Charta der Vielfalt e. V. Als Jugendlicher musste er alleine aus Afghanistan fliehen und kam nach Deutschland. Nach dem Abitur betrieb er einen Kiosk und absolvierte anschließend ein Jura-Studium in Bonn. Bis Oktober 2023 war er Personalchef und Mitglied der Geschäftsführung von SAP Deutschland.