Neurodiversität in Unternehmen: Der Wert des Andersseins

Das Konzept der Neurodiversität hat es von der Wissenschaft auf die Sozialen Medien geschafft - und beschäftigt auch immer mehr Unternehmen. Was versteckt sich hinter dem Begriff und wie können Unternehmen von Neurodiversität profitieren? Unternehmerin und Psychologin Dana Pietralla liefert Einblicke, wie Vielfalt neu gedacht werden kann.

Besondere Zeiten erfordern besonderes Denken. Während wir mehr denn je kluge Köpfe brauchen, um die Herausforderungen unserer Zeit anzugehen, brauchen wir dazu auch innovative, kreative und unkonventionelle Ideen – “Thinking outside the box” eben. 

Vielfalt wird dabei oft als Quelle der Innovation betrachtet. Doch während wir uns meist auf Diversität in Bezug auf Geschlecht und Kultur konzentrieren, bleibt eine wichtige Form der Vielfalt oft unbeachtet: Neurodiversität.

Neurodiversität bezieht sich auf die Einzigartigkeit des menschlichen Gehirns und die verschiedenen Arten, wie es funktioniert und sich entwickelt. Sie beschreibt, dass jeder Mensch individuelle neuronale Verdrahtungen und Funktionsweisen hat, die uns zu dem Menschen machen, der wir sind, und damit zu der bestehenden Neurodiversität in unserer Gesellschaft beitragen.

Variationen des Gehirns

Neurodiversität umfasst eine breite Palette von neurologischen Unterschieden, welche diagnostiziert sein können, wie ADHS oder Dyslexie, aber nicht müssen.
Ein grundlegendes Konzept von Neurodiversität ist, dass neurologische Unterschiede keine Störungen oder Defizite darstellen, die uns in “gesund” und “krank” unterteilen. Unterschiede in Konzentrations- und Lernfähigkeit, Stresstoleranz oder emotionale Belastbarkeit sind somit vielmehr Ausdruck der natürlichen Variation des menschlichen Gehirns. Diese Variationen können eine breite Palette von Fähigkeiten, Stärken und Perspektiven mit sich bringen, die von unschätzbarem Wert für die Arbeitswelt sind.

Vorteile für Unternehmen

Die Bedeutung für die Arbeitswelt wird von Early Adopters zunehmend erkannt: Unternehmen sehen die Vorteile einer vielfältigen Belegschaft und suchen aktiv nach Möglichkeiten, neurodivergente Talente einzubeziehen. Beispielsweise können Menschen mit Autismus oft herausragende Fähigkeiten in Bereichen wie Mustererkennung, Datenanalyse, und kreativem Problemlösen aufweisen. Unternehmen wie SAP und Microsoft haben HR Programme entwickelt, um neurodivergente Personen einzustellen und einzubeziehen – und profitiert: Es förderte nicht nur die Vielfalt am Arbeitsplatz, sondern verbesserte auch die Leistung und Innovation der Teams. 

“‘Aber was bringt Neurodiversität im Unternehmen denn konkret?”, höre ich oft von Führungskräften, die zum ersten Mal über den Begriff stolpern. Höchste Zeit also darzulegen, warum die Diversity Strategie um den Faktor Neurodiversität erweitert werden sollte.

Vom Wohlfühlfaktor zum Wachstumsziel

Unternehmen, die eine inklusive Kultur fördern und die Fähigkeiten und Beiträge aller Mitarbeiter*innen wertschätzen, schaffen eine Umgebung, in der sich alle gesehen fühlen. 

Die Sensibilisierung für Neurodiversität trägt dazu bei, Vorurteile und Stigmatisierung abzubauen. Indem wir die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen wertschätzen, schaffen wir ein Teamgefüge, das auf gegenseitigem Respekt basiert. Nach Vorträgen kommen immer wieder Menschen auf mich zu und sagen, “gut, dass darüber endlich gesprochen wird!”.

Denn während die ADHS Diagnose von Freund*innen und Familie in der Regel gut aufgefasst wird, besteht in vielen Fällen Angst vor einem “Outing” am Arbeitsplatz: “Was, wenn ich als weniger konzentrations- und leistungsfähig angesehen werde und die nächste Beförderung ausbleibt?”. Das Ansprechen der eigenen kognitiven Bedürfnisse, welche durch Stress und Leistungsdruck verschärft werden können, ist deshalb ein Tabuthema.

Das Setzen auf Neurodiversität ist dabei mehr als nur ein Wohlfühlfaktor: Es kann zu höherer Mitarbeiterbindung und Motivation führen, da die eigene Individualität gewürdigt wird. So ergibt sich eine Win-Win-Situation für alle, die nicht nur die Zufriedenheit der Belegschaft, sondern auch die Leistungsfähigkeit und Performance des Betriebs stärkt.
Unternehmen, die sich für Vielfalt und Inklusion engagieren, haben dabei nicht nur in der internen Kommunikation, sondern auch in der externen Kommunikation Vorteile. Sie stärken durch das Bewerben entsprechender Programme und Maßnahmen ihr Markenimage und positionieren sich als Arbeitgeber, der sich für soziale Verantwortung und Inklusion einsetzt. 

Der Konkurrenz einen Schritt voraus

Das Fördern von Neurodiversität kann damit auch zu einem Wettbewerbsvorteil für Unternehmen und Teams führen. Studien zeigen, dass Unternehmen mit kognitiv vielfältiger Belegschaft kreativere Ideen generieren und in der Lage sind, flexibel auf sich ändernde Märkte zu reagieren, innovative Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und Top-Talente anzuziehen und zu halten. Denn: Je diverser die Gruppe von Menschen, desto besser ist sie in der Lage, sich an Veränderungen anzupassen und Herausforderungen zu bewältigen. 

Die Interaktion mit Menschen, die anders denken und handeln als wir selbst, erweitert zudem unseren Horizont und fördert unser Verständnis für andere Bedürfnisse; das gilt sowohl für Mitarbeitende, als auch für Kund*innen. Denn auch wenn die Belegschaft wenig kognitiv divers sein sollte, die Kund*innen, die tagtäglich mit Produkten der eigenen Marke in Kontakt kommen, sind es ganz sicher. Durch den Austausch von Erfahrungen können wir neue Strategien entdecken, unsere eigenen Annahmen hinterfragen und so bessere Produkte anbieten als die Konkurrenz. 

Teamwork makes the dream work

Neurodiversität bringt unterschiedliche Denkweisen mit, die dazu beitragen können, Probleme auf innovative Weise zu lösen. Ein einzigartiger Zugang zu Informationen kann frische Einsichten und kreative Lösungsansätze bieten, die in traditionellen Denkmustern – welche in vielen Unternehmen nach wie vor vorherrschen  – übersehen werden. Diese Fähigkeiten können in verschiedenen Unternehmensbereichen, von der Softwareentwicklung bis hin zum Qualitätsmanagement, von großem Nutzen sein.

Hewlett Packard konnte zeigen, dass Mitarbeitende mit neurodiversem Hintergrund um bis zu 30 Prozent produktiver zusammen arbeiteten, als Vergleichsgruppen, die weniger divers waren. Ihr unterschiedlicher Erfahrungshintergrund ermöglicht, dass neurodiverse Gruppen verschiedene Lösungsansätze in Erwägung ziehen, die von homogenen Gruppen von vornherein ausgeschlossen werden. 

Aber: Neurodiversität ist keine Einbahnstraße. Während neurodiverse Menschen einzigartige Perspektiven mitbringen, können sie auch auf Hindernisse stoßen, die mit gesellschaftlichen Vorurteilen und unzureichender Unterstützung verbunden sind.
So sollten ihnen z.B. bei einem Vorteil im kreativen Arbeiten nicht automatisch alle Aufgaben im kreativen Bereich zugeteilt werden, denn das würde die Stereotypisierung weiter aufrechterhalten. Mein Tipp: Mit Mitarbeitenden offen sprechen und gemeinsam an Hand der vorhandenen Stärken und Schwächen Arbeitsbereiche festlegen, womit sich jeder wohlfühlt.

Die Kultivierung einer inklusiven Umgebung erfordert daher nicht nur das Nutzen der vielen Vorteile von Vielfalt, sondern auch z.B. die Bereitstellung von Ressourcen und Unterstützungssystemen. Das können flexible Arbeitszeiten, ein individuelles digitales Arbeitsumfeld und Rückzugsmöglichkeiten während der Arbeit sein.

Jeder Mensch bringt mit seinem neurodiversen Profil einzigartige Skills mit sich, die dazu beitragen können, innovative Lösungen zu entwickeln. Dieses Potenzial wird noch von viel zu wenigen Unternehmen gefördert und genutzt, obwohl es für den Unternehmenswachstum essentiell sein kann.

Den Wert des Andersseins als Unternehmen anzunehmen bedeutet aber auch, dass akzeptiert wird, dass nicht nur eine Art zu denken, eine Art zu kommunizieren und eine Art zu arbeiten richtig ist. Ich stelle fest, dass das bei vielen Führungskräften noch auf Vorbehalte stößt. Dabei ist der Gewinn für ein Unternehmen bei weitem größer als die Kosten für einen Perspektivwechsel.

Höchste Zeit, festgefahrene Prozesse und veraltete Strukturen, welche Innovation und Vielfalt behindern, loszulassen, und die Bandbreite an kognitiver Vielfalt der Mitarbeitenden wertzuschätzen.

Zur Autorin:

Dana Pietralla ist Gründerin vom Social-Tech Start-up paged, das Lösungen für mehr digitale Inklusion von neurodiversen Menschen entwickelt. Ihre Forschung im Bereich Cognitive Science an der University of California, Berkeley und der New York University liefert dafür die Grundlage. Dadurch entwickelt paged KI- und IT-Tools, um ein maßgeschneidertes Nutzungserlebnis für Menschen mit unterschiedlichsten kognitiven Bedürfnissen zu bieten – wovon wir alle profitieren! Dana ist auch als internationale Speakerin und Beraterin tätig.

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