„Mit dem Herzen gehen”

Als Kind wollte sie Basketballspielerin werden. Später wurde sie als Profi-Windsurferin bekannt. Heute bleibt sie ihrem Motto: Immer in Bewegung bleiben! immer noch treu, mehr noch: Hester Andersen Le Riche, Gründerin und CEO von Tover, hilft, mit einer KI-gestützten „Tovertafel“, das Pflegesystem zu unterstützen und voranzutreiben.

Wie kam es zur Gründung von Tover? 

Vor der Gründung von Tover war ich als Profi-Windsurferin immer in Bewegung und draußen in der Natur. In meiner Examensarbeit beschäftigte ich mich bereits 2009 mit Visionen von einem liebenswürdigen Alter. Meine Leidenschaft fand ich in den folgenden Jahren in Designprojekten, die das Verhalten von Menschen beeinflussen und zu ihrer Gesundheit beitragen. Im Rahmen meiner Dissertation „Playful Design for Activation“ nutzte ich dann aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, um ein System zu entwickeln, das die körperliche Aktivität von Menschen mit schwerer Demenz stimuliert. So entwarf ich schlussendlich die Tovertafel: ein interaktives Lichtprojektionssystem, das Menschen mit kognitiven Herausforderungen zur Interaktion miteinander verleitet, Erfolgserlebnisse vermittelt und dabei alle Sinne anspricht.

Ihr Unternehmen steht “für eine liebevolle und integrative Welt für Menschen mit kognitiven Herausforderungen”. (Wie) kann eine technische Innovation ein Wegbereiter für Inklusion und Selbstbestimmung sein?

Unsere Zielgruppe sind Senioren mit Demenz und Erwachsene mit kognitiven Schwierigkeiten. Viele von ihnen leben in Pflegeeinrichtungen. Inklusion bedeutet für diese Menschen, dass ihre Erlebnishorizonte, Wünsche und Bedürfnisse Berücksichtigung finden, sie sehnen sich nach sozialer Interaktion und brauchen eine positive Selbstwahrnehmung. In der Pflegerealität mangelt es genau daran aber leider, weil den Betreuer:innen oft die Zeit fehlt.

Viele Beschäftigungen für diese Zielgruppe sind entweder zu kompliziert oder zu kindlich gestaltet. Technische Innovationen wie die Tovertafel können diese Lücke füllen, das belegen Studien. Inklusion spielt bei uns schon bei der Entwicklung der Spiele eine wichtige Rolle, sie werden alle in enger Zusammenarbeit mit den Spielenden selbst entwickelt.

Wie funktioniert die Tovertafel und wie wird sie therapeutisch angewendet?

Ein Projektor wirft bewegte Welten auf einen Tisch und macht sie greif- und gestaltbar. Per Handbewegung können die Spielenden in die Bilder eingreifen, Bälle zu den Mitspielenden schubsen, bunte Seifenblasen platzen lassen, Schmetterlinge fangen oder berühmte Gemälde neu erschaffen. Der technische Schlüssel dazu ist ein KI-gestütztes Lichtprojektionssystem. Auf Grundlage künstlicher neuronaler Netzwerke erfasst das System Hände, deren Position und Geschwindigkeit und rechnet sie in animierte Bilder um. Die Projektionen reagieren bereits auf kleinste Handbewegungen. Das schafft Selbstbewusstsein und motiviert, weiter zu spielen. Durch die spielerische Interaktion untereinander und mit den Pflegekräften sowie der Nähe der Spiele zu realen Begebenheiten wie dem Ankleiden oder der täglichen Körperpflege stellt die Beschäftigung mit der Tovertafel eine Brücke für Menschen mit kognitiven Schwierigkeiten und Demenz zu ihrer Umwelt dar und hilft ihnen, Fähigkeiten zu erhalten oder weiterzuentwickeln. Außerdem entlastet die Tovertafel die Pflegekräfte und sorgt für Glücksmomente im Pflegealltag, zum Beispiel, wenn alle Bewohner:innen gemeinsam an der Tovertafel sitzend, altbekannten Melodien lauschen und im Takt mittrommeln.

Tover wurde vor fünf Jahren gegründet, inzwischen gibt es über 6.000 Pflegeeinrichtungen, die den Tisch verwenden. Wie wurde der innovative Tisch zu Beginn angenommen?

Die Niederländer waren bereit für das Produkt, die Themen Demenz und Serious Games waren zu dem Zeitpunkt bereits Teil des öffentlichen Diskurses. Meine größte Überraschung kam nach der Markteinführung der Tovertafel: Während meines Studiums hatte ich mich immer auf meine Zielgruppe konzentriert: Menschen mit Demenz. Es ging mir um ihre Wahrnehmung, ihre Interaktionen miteinander und mit dem Produkt. Nach der Markteinführung waren es jedoch vor allem die Pflegekräfte und die Familien der Patient:innen, die uns das größte und positivste Feedback gaben. Sie sagten uns, dass das Produkt ihr Leben einfacher und glücklicher macht. Mir wurde klar, dass wir ein Produkt für das gesamte Pflege-Ökosystem geschaffen hatten. Ich bin sehr stolz darauf, dass wir das Leben all dieser Menschen berühren können.

Welche Wirkung auf die Nutzer:innen zeigt die Tovertafel?

Die Tovertafel regt zu körperlicher Aktivität und sozialer Interaktion an. Apathie ist ein häufiges Symptom der Demenz. Die Tovertafel kann diese Apathie durchbrechen und Betroffene aktivieren. Menschen, die zuvor teilnahmslos in ihrem Stuhl saßen, werden motiviert, sich zu bewegen und mitzuspielen. Da die Fähigkeiten der Mitspielenden sich unterscheiden, sind unsere Spiele so konzipiert, dass alle mit dem Spiel interagieren können, unabhängig von der Art oder dem Schweregrad Ihrer Erkrankung. Bei unserem Musikspiel “Muzikbox” beispielsweise können die Spielenden einfach nur zuhören und die Musik genießen, aber auch mitsingen, sich im Takt bewegen oder richtig mitspielen.

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie aktuell? Wie möchten Sie die Weiterentwicklung von Tover vorantreiben?

Unsere größte Herausforderung ist im Moment die Lieferkette. Da gibt es momentan einige Unsicherheiten und es erfordert viel Energie und Konzentration, das geregelt zu bekommen.

Wir entwickeln derzeit mehrere neue Produkte, die noch flexibler im Pflegealltag eingesetzt werden können, um den Alltag für Patient:innen, Pflegekräfte aber auch Angehörige zu verbessern. Außerdem konzentrieren wir uns noch mehr auf Kinder mit besonderen Bedürfnissen. 

Welche weiteren Potenziale bietet Künstliche Intelligenz für Pflege- und Gesundheitswesen? Arbeiten Sie bereits an neuen Projekten?

In der KI steckt definitiv eine Menge Potenzial. Ich denke, dass wir als Designer:innen wirklich verstehen und lernen müssen, wie man KI zum Nutzen der Anwender:innen einsetzt. Es ist einfach, sie für alles Mögliche zu benutzen. Man kann zum Beispiel jede Menge anonymisierter Daten sammeln, aber man muss auch verstehen, wem diese Daten helfen. Wenn Designer:innen bei der Entwicklung die Endnutzer:innen im Blick haben, wenn wir zum Beispiel Pflegekräften mehr Zeit für die Menschen geben können, die sie betreuen, dann kann KI neue und bessere Arten von Interaktionen ermöglichen.

Wie soll das ideale Pflegesystem der Zukunft aussehen?

Gute Pflege umfasst sowohl die körperliche als auch die emotionale und soziale Versorgung einer Person. Es geht darum, die Bedürfnisse und Wünsche des Patienten zu respektieren und ihm dabei zu helfen, seine Unabhängigkeit und Würde zu bewahren. Dazu benötigt das Personal vor allem eines: Zeit. Natürlich ist das Wichtigste dafür mehr gutes Personal. Aber wir sollten auch Technologien nutzen, um beispielsweise Zeit bei der Dokumentation einzusparen. Denn auch damit bleibt mehr Zeit für die Patient:innen. Und wir sollten anders mit Themen wie Demenz oder anderen kognitiven Einschränkungen umgehen. Apathie oder Aggressivität sind oft eine Folge dieser Leiden – aber nur, wenn die soziale Interaktion fehlt, wenn wir diese Menschen nicht mehr geistig anregen. Sinnvolle digitale Angebote können helfen, die Pflegebedingungen entscheidend zu verbessern, indem sie für Momente des Glücks sorgen und damit den Einsatz von Medikamenten verringern.


Über Hester Anderiesen Le Riche

Meinen Arbeitstag beginne ich mit… einem zehnminütigen Call mit meinem Managementteam, bei dem wir die wichtigsten Tagesaufgaben besprechen, uns gegenseitig unterstützen und an unseren Zielen arbeiten. Es ist ein kurzes Gespräch, aber eine gute Möglichkeit, sich abzustimmen.

Als Kind wollte ich… eine professionelle Basketballspielerin werden.

An meine Grenzen komme ich, wenn… Ich bin immer wieder überrascht, dass ich erst später an meine Grenzen komme, als ich zunächst dachte. Aber irgendwann zeigt mir mein Körper meine Grenzen auf, dann höre ich auf ihn. Was ich gelernt habe: Wenn ich mit dem Herzen dabei bin, komme ich sehr weit.

Die wertvollste Innovation der letzten fünf Jahre ist für mich… -als niederländische Mutter definitiv die”Bakfiets” (elektrische Lastenräder). Sie haben unsere Morgenroutine verkürzt, den Schulweg nachhaltiger gemacht und die Kinder lieben sie!

Geprägt hat mich… meine Familie. Meinen Führungsstil habe ich von meinem Vater. Und meine Mutter hat mir gezeigt, wie man Menschen unterstützt und ihnen hilft, zu wachsen. Sie war schon immer eine großartige Lehrerin.

Am meisten bin ich dankbar für… meinen Mann. Was wir uns erträumen, das verwirklichen wir auch. Das haben wir gemeinsam und haben uns so ein schönes, erfülltes Leben mit Arbeit, Familie, Freunden auf derganzen Welt und Reisen geschaffen.

Mein persönlicher Ratgeber ist… Ich habe tatsächlich eine ganze Reihe von Menschen, an die ich mich wende: meinen Vater, meine Mutter und meinen Bruder, meinen besten Freund. Auch geschäftliche Kontakte. Und meinen Mann. Ich hole mir immer gerne Ratschläge und Feedback von den Menschen aus meinem Umfeld.

Frische Ideen finde oder hole ich… beim Laufen.


Über Tover:

Mit der Tovertafel (dt. Zaubertisch) sorgt eine leicht in den Pflegealltag integrierbare Neuerung aus den Niederlanden für große Freude in deutschen Pflegeheimen, Kliniken und Senioreneinrichtungen. Die Niederländerin Hester Anderiesen Le Riche hat ihre interaktive Spieleplattform 2015 im Rahmen ihrer Doktorarbeit im Fachbereich Industriedesign entwickelt. Per Lichtprojektionssystem werden bunte Blumen oder Seifenblasen auf jeden Tisch projiziert und laden Menschen mit Demenz spielerisch zur Interaktion mit ihrer Umwelt ein. In mittlerweile mehr als 6.000 Pflegeinstitutionen weltweit, darunter 700 Pflegeeinrichtungen und Seniorenheimen in Deutschland, sorgt die Tovertafel für Anregung, Bewegung, Spaß und Entspannung. Weitere Informationen: tover.care

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