“Altersdiversität ist in Zukunft alternativlos”

Sie ist Jahrgang 1985 – und zählt damit zu den Millennials. Zumindest auf dem Papier. Denn: Dr. Irène Kilubi möchte von Kategorisierungen und Schubladen nicht viel wissen. Sie setzt sich dafür ein, Generationen zu verbinden.

Frau Kilubi, in unserer Welt ist es nicht gut, zu jung zu sein – zu alt aber auch nicht. Haben wir ein Problem mit dem Alter?

Irène Kilubi: Auf jeden Fall. Dabei ist Alter mehr als nur eine Zahl. Spannend ist, wie unterschiedlich Gesellschaft, Medien, Wirtschaft und Politik mit dem Thema Alter umgehen. Jeder Bereich hat unterschiedliche Herausforderungen. Gesellschaftlich ist die Kultur in Deutschland heute eine andere als früher, als mehrere Generationen in einem Haushalt beieinander waren – heute sind Familien auch mal Hunderte von Kilometern voneinander getrennt.

In Italien dagegen leben Großfamilien zusammen, in Asien wird das Alter absolut wertgeschätzt. Medien heben selten ältere Menschen aufs Cover. Als die Vogue UK oder Philippinen das vor einigen Monaten getan hat, war das Lob von vielen Seiten groß. Auf Podien und Panels sitzen kaum ältere Frauen. Wenn ältere Menschen auf Veranstaltungen und in Diskussionen sind, dann sind es meistens Männer.

Kürzlich war ich auf einem Event, und plötzlich stand eine 74-jährige Frau auf, die meinte: Sie werde von der Gesellschaft nicht mehr gesehen und wahrgenommen. Das hat mich traurig gestimmt. Im Wirtschaftsleben gilt man ab 50 Jahren als alt – da wird man schön langsam in den Ruhestand geleitet, obwohl es noch 15 Jahre bis zur Rente sind. Dagegen werden junge Menschen in der Politik benachteiligt, dabei sind es sie doch, die die Zukunft maßgeblich mitgestalten und prägen werden.

„Der Onboarding- und Offboarding-Prozess dauert maximal zwei Tage. Das reicht für einen Know-how-Transfer nicht aus.“

Nehmen wir den Bereich Business: Wo sind die größten Baustellen in Unternehmen?

Leider sind Unternehmen sehr schlecht aufgestellt, was den Wissenstransfer angeht. Damit Unternehmen zukunftsfähig sind, muss Wissen gespeichert, aufrechterhalten und weitergegeben werden – und das generationsübergreifend. Im ersten Schritt bedeutet das: den Employee Lifecycle anders gestalten. Der Onboarding- und Offboarding-Prozess dauert meist nur wenige Stunden bis maximal zwei Tage.

Das reicht natürlich bei Weitem nicht für einen Know-how-Transfer aus. Der Prozess muss kontinuierlich stattfinden. Unternehmen müssen ausarbeiten, wie das passieren kann: Durch Jobsharing, Reverse-Mentoring-Programme, Co-Kreationen – es gibt unzählige Möglichkeiten, Altersdiversität ins Employer Branding einzuarbeiten und zu integrieren. Man muss es nur tun.

Können Sie uns Quick-Wins nennen?

Natürlich!

  • Diversity Management hilft: Demografie-Beauftragte*r: Workshops und Team-Building-Events organisieren.
  • Einen Werte- und Verhaltenskodex entwickeln.
  • Gemeinsamkeiten herausarbeiten.

Welche Rolle spielt das Recruiting?

Eine sehr große. In Stellenausschreibungen kommen oft Begriffe wie „jung, dynamisch, frisch“ daher. Das mag positiv klingen, hält aber tatsächlich Menschen, die älter sind, ab, sich zu bewerben. Ferner müssen sich Unternehmen die Frage stellen, ob sie die richtigen Kanäle bedienen, in denen sie auch erfahrene Kandidat*innen gleichermaßen erreichen. Ganz oft fragen mich Unternehmen: „Was können wir tun, um die Gen Z abzuholen?“ Ich antworte dann: „Das ist die falsche Frage – Sie müssen sich fragen, welche Unternehmenskultur Sie schaffen wollen, damit sich alle wohlfühlen.“

Können Sie das konkreter ausführen?

Leider gibt es Ageism auf der einen Seite, was bedeutet, dass älteren Menschen ihre Kompetenzen, ihre Fähigkeiten und ihre Leistungsfähigkeit abgesprochen werden. Auf der anderen Seite: Adultismus, bei dem Menschen als zu jung erachtet werden, die richtigen Entscheidungen zu treffen oder gar Verantwortung übernehmen zu können. Und Frauen – die haben ohnehin immer das falsche Alter.

„Wenn Jung und Alt zusammenarbeiten, können sie voneinander lernen und so die besten Ideen miteinander umsetzen.“

Sind Firmen, die sich altersdivers aufstellen, erfolgreicher?

Ja, absolut. Dies belegen auch zahlreiche Studien. Dabei liegt genau hier das Potenzial für Innovation: Wenn Jung und Alt zusammenarbeiten, können sie voneinander lernen und so die besten Ideen umsetzen (vgl. Schäfer 2017, Europäische Kommission; Beruf und Familie 2020). Was die Erfahrung betrifft, so hat die ältere Generation aufgrund langjähriger Berufsdauer eine starke historische Sicht auf die Entwicklungen in der Arbeitswelt, während die jüngeren Generationen eher im Bereich der neuen Technologien und Medien qualifiziert sind, dafür aber wenig bis keine Erfahrung vorzuweisen haben.

In Zukunft wird das alternativlos sein. Vorbei sind die Zeiten, in denen ältere Mitarbeiter*innen sofort durch jüngere, qualifizierte Berufseinsteiger*innen ersetzt wurden. Dies ist hauptsächlich auf sinkende Geburtenraten in Europa und eine längere Lebenserwartung zurückzuführen.

Was bedeutet das in der Praxis?

Unternehmen müssen damit rechnen, dass sich auf eine offene Stelle bestenfalls zwei qualifizierte Arbeitskräfte bewerben. Es wird kaum Nachwuchskräfte geben, und bei den wenigen, die es gibt, stehen die Unternehmen in einem echten Wettbewerb untereinander. Bedeutet auch: Unternehmen müssen sich aufhübschen, attraktiv sein – junge Leute sind da sehr kritisch, wenn eine Unternehmenskultur nicht passt. Diversität steht auf ihrer Wunschliste an Stelle 2.

Wie sieht es beim Thema Fachkräftemangel und Age Inclusion aus?

Wir befinden uns in einem Arbeitnehmendenmarkt. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt, bei dem sich meist die jüngeren Fachkräfte als die begehrteren herausstellen. Durch die angesprochene große Konkurrenz um junge, agile Arbeitskräfte wird der bestehende Fachkräftemangel nur weiter verstärkt. Hier lohnt es sich, aus der Position des Generationenmanagements, erfahrenen, älteren Fachkräften den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern.

Fachkräftemangel ist übrigens ein sehr westeuropäisches Thema. Im Grunde sehr ungewöhnlich, weil Deutschland mit seiner Einwohnerzahl von 81 Millionen Menschen das bevölkerungsreichste Land Europas ist. Aber natürlich, wir haben die niedrigste Geburtenrate – zwischen 1,2 und 1,3, je nachdem, welche Studie wir uns anschauen. Tendenziell wird das noch weiter zurückgehen.

Warum haben Sie sich entschieden, sich dem Thema Altersvielfalt zu widmen?

Alle reden von Gender Diversity. Doch auch Altersdiversität gehört zwingend zu Diversity dazu. Der demografische Wandel stellt uns jetzt und in Zukunft vor große gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen. Durch die wachsenden Technologieanforderungen fühlen sich ältere Generationen oft abgehängt. Digitalisierung sollte die Kommunikation zwischen Generationen jedoch fördern, anstatt sie zu behindern.

„Viele Initiativen kümmern sich um die Belange junger Menschen, nur wenige um die Belange erfahrener Menschen.“

Warum gestaltet es sich oft schwierig, eine Verbindung zwischen den Generationen aufzubauen?

Beide Seiten haben häufig mit Vorurteilen zu kämpfen. Eine Verbindung
zwischen den Generationen aufzubauen, kann sich daher als schwierig herausstellen. Ich habe durch mein Female-Empowerment-Netzwerk sehr viele Berührungspunkte mit dem Thema Diversity allgemein. Mir ist dabei aufgefallen, dass sich viele Vorurteile und Stereotypen rund um verschiedene Generationen „tummeln“.

Umso erstaunlicher, da es die einzige Diversitätsdimension ist, die wir alle gemeinsam haben. Meine Recherche ergab, dass sich viele Initiativen um die Belange von jungen Menschen, nur wenige um die Belange erfahrener Menschen kümmern und noch weniger sich Generationenverbundenheit auf die Fahne geschrieben haben. Die Idee zu JOINT GENERATIONS war geboren. Altersvielfalt gewinnt – beruflich ebenso wie gesellschaftlich!

JOINT GENERATIONS fokussiert auf das, was „Jung und Alt” in verschiedensten (Lebens-) Bereichen verbindet. Genau das macht diese Initiative stark und für alle Menschen persönlich erlebbar. Wir schaffen generationenübergreifende Zusammenarbeit in sämtlichen Themenbereichen, um unsere gemeinsame Zukunft nachhaltiger und lebenswerter zu gestalten.

Wie baut JOINT GENERATIONS Brücken?

Unser Credo lautet: Die Zukunft ist jung und alt. Als ich vor drei Jahren mit meinem Unternehmen gestartet bin, habe ich echte Pionierarbeit geleistet. Nach und nach springen immer mehr auf den Zug auf, die Firmen sehen, dass es ein wirklich heißes Thema ist. Unternehmen bitten uns, ihnen einen allgemeinen Überblick zum Thema, zum Beispiel durch Vorträge oder Impulse, zu verschaffen oder sie treten mit einem konkreten Anliegen an uns heran, zum Beispiel, wenn die Abbruchquote bei Azubis besonders hoch ist.

Dann starten wir Umfragen unter den Auszubildenden und Ausbildungsleiter*innen und entwickeln maßgeschneiderte Weiterbildungsformate. Ein anderes, ganz konkretes Beispiel: Eine*r unserer Kund*innen stellte fest, dass das Durchschnittsalter der Mitarbeitenden bei 32 Jahren lag – der Wunsch war aber, mehr ältere und erfahrene Kräfte ins Team zu holen.

Nachdem wir die Rekrutierungsmaßnahmen angeschaut hatten, war klar: Ältere Menschen fühlten sich durch Themen wie Digitalisierung und neue Kommunikationsformate ausgegrenzt. Auch beliebt: Unser Reverse-Mentoring-Programm unterstützt durch eine App, bei der junge Menschen erfahrenen Menschen als Mentor*innen zur Seite stehen. Wir spüren, dass es extrem wichtig ist, innovative Workshops, Teambuilding und Eventformate anzubieten, die auf Kund*innen ausgerichtet sind.

Wo müssen wir ältere Menschen noch mehr im Blickfeld haben?

Ein Beispiel: Wenn es zu betriebsbedingten Kündigungen kommt, müssen meist ältere Kolleg*innen ausscheiden – warum eigentlich? Ist das nicht auch eine Art von Diskriminierung? Warum nicht darüber nachdenken, dass ein*e jüngere*r Kolleg*in, der*die vielleicht erst zwei Jahre im Team ist, das Unternehmen verlassen muss? Solche Entscheidungen werden auch durch Stereotype und Vorurteile gefällt.

Stichwort: Stereotype und Vorurteile …

… die stehen uns im Weg. Älteren wird nachgesagt, sie seien nicht mehr innovativ und kreativ, die Jungen seien überheblich. Erfahrene sagen, sie werden nicht mehr wertgeschätzt, Unerfahrene meinen, sie werden nicht ernst genommen. Dabei möchten doch alle dasselbe: nämlich Wertschätzung erfahren, gehört und gesehen werden. Übrigens haben sich in der letzten Zeit viele Start-ups verändert: Sie nehmen ältere Menschen mit ins Core-Team auf – nicht nur in den Beirat, um von deren Erfahrung zu profitieren. Daran sollten sich alle ein Beispiel nehmen.

10 Punkte für mehr Bewusstsein für Altersdiversität

  1. Den Wert der Erfahrung erkennen
  2. Multigenerationen-Teams begrüßen
  3. Altersvorurteile bekämpfen
  4. Lebenslanges Lernen unterstützen
  5. Work-Life-Balance fördern
  6. In der Unternehmenskommunikation mehr Bilder von Mitarbeitenden 50plus und
    gemischten Teams aufnehmen
  7. Flexible Entwicklungs-Optionen schaffen
  8. Eher in Lebensphasen als im chronologischen Alter denken. Stages, not ages!
  9. Role Models und Vorbilder aufzeigen
  10. Arbeitsprozesse und Arbeitsplätze auf den Prüfstand stellen

Zur Person

Dr. Irène Kilubi ist Unternehmerin, Beirätin, Bestseller-Autorin, Speakerin, Hochschuldozentin, Investorin und Moderatorin. Sie hat eine Konzernvergangenheit vorzuweisen und war viele Jahre lang bei BMW, bei Siemens und im Management Consulting bei Deloitte angestellt. Kurz vor der Beförderung zum Senior Manager – „der Weg zur Partnerin war nicht mehr weit“, sagt sie – beschloss sie, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Irène Kilubis Mama war es, die ihr den letzten Schubser gab. Während ihrer Festanstellung schrieb sie ihre Doktorarbeit, nahm Lehraufträge an und machte zwei Coachingausbildungen. Heute möchte sie mit ihrem Unternehmen JOINT GENERATIONS Generationen verbinden.

Das neue Buch „Du bist mehr als eine Zahl. Warum das Alter keine Rolle spielt“ von Dr. Irene Kilubi erscheint am 29. Februar 2024.

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