Viele Menschen pflegen ein morgendliches Ritual, um voll positiver Energie in den Tag zu starten. Meines festigte sich mit der jahrelangen Angewohnheit, bei einem starken Kaffee die Überschriften der üblichen großen Zeitungen Deutschlands zu überfliegen und in den ein oder anderen Artikel tiefer einzutauchen. So weit, so normal. Im letzten Jahr jedoch hat sich dieses Morgenritual in etwas gedreht, das mich mit erhöhtem Puls und wenig guter Laune zurücklässt, ja, mich oft den Tag über beschäftigt.
Mein Interesse an einem Thema und die erstaunliche Dynamik, die sich entwickelt, wenn man tiefer in eine Bubble eintaucht, waren der Auslöser für diese Veränderung. Das Thema: inklusive Sprache. Erst widmete ich mich dem Lesen der Fachbeiträge und Interviews, die an der ein oder anderen Stelle auftauchen, denn als Marketer ist es meine Pflicht zu wissen, wie sich Themen wie diese aktuell entwickeln und als leidenschaftliche Leserin mein Anliegen, Sprache zu verstehen. Doch dann übertrat ich die Schwelle in die Kommentarspalte und schon war es um mich geschehen.
Eine neue Angewohnheit, die mich nicht nur in durch die deutsche Medienlandschaft, sondern auch weiter in die Untiefen der Sozialen Medien führte – ich mache bis heute vor keinem Instagram-Post oder Subreddit zum Thema mehr Halt. Die Reaktionen, die ich auf manche gendernde Posts unserer Kund:innen wie OTTO und Disney erlebte, unterwegs im breitesten, deutschen Mainstream, bekamen für mich nun mehr Kontext.
Meine persönliche Haltung lässt sich leicht aus dem letzten Satz herauslesen, doch diese muss derzeit nicht allgemeingültig sein. Darum stelle ich hier die Frage: Gibt es eine Verpflichtung, als werbetreibende Marke, gesellschaftliche Themen, abseits von Religion und Politik, aufzugreifen und vielleicht sogar Stellung dazu beziehen? Oder ist gerade die Marke mit hoher Markenbekanntheit ein Neutrum, die Schweiz der Kommunikation? Und falls nein, wie könnte man sich dieser Verpflichtung stellen?
Drei gedankliche Anstöße zum Thema
Viel Wind oder ein echtes Problem?
Es ist erstaunlich, mit wie viel Energie sich Menschen an inklusiver Sprache aufreiben können. Die Anzahl an Beiträgen und Kommentaren von Expert:innen, Trollen und echten empörten Bürger:innen, die Wörter um sich streuen wie „Missionierung“, „Zwang“, „Diktatur“ und gar mit der Auflösung von Konten und Kaufverweigerung drohen, stellt sogar so manchen Beitrag mit hoher politischer Brisanz in den Schatten. Die verwundete Fragilität mancher Blasen zeigt, dass es ein Thema ist, das mehr bewegt als so manche:r zugeben möchte. Und das auch einige betrifft: Frauen wurden bislang mit dem generischen Maskulinum mitgemeint, also immerhin 50,7 % der Gesellschaft (Statista), aber auch alle, die sich keinem binären Geschlecht zuordnen können oder wollen. Noch einmal etwa 100.000 Menschen mehr (dgti).
Eigentlich ist Gendern ein furchtbar trockenes Thema und auch kaum aufwändig, doch die aufgeregte Diskussion beweist, dass es nicht die Ursache, sondern das Symptom einer tieferliegenden, gesellschaftlichen Haltungsverschiedenheit ist. Wie die Autorin Charlotte Suhr anmerkt, geht es für die einen um existenzielle Rechte, für die anderen um ihre privilegierte Stellung in der Gesellschaft. Und wir wissen auch, dass weniges Bestand hat, vor allem Sprache. Der Wandel steht also vor der Tür.
Bei solchen Themen gibt es für Marken eigentlich nur zwei Wege: komplette Ignoranz oder ein Aktivwerden – in beiden Fällen mit allen Konsequenzen.
Eine Marke für die meisten oder für alle?
Nun kann man sich die Frage stellen: Bin ich eine Marke für alle, oder schließe ich Teile meiner potenziellen Zielgruppe bewusst aus? Denn, da die Debatte nun stattfindet, kann man nicht mehr von einem versehentlichen, weil gelerntem, Nicht-mit-Meinen sprechen. Mit jeder Formulierung wird nun aktiv eine Seite bezogen. Wenn man annimmt, dass repräsentative Umfragen mit 1000 Personen tatsächlich die unverzerrte Meinung des deutschen Schnitts darstellen, ist es interessant, sich zum Beispiel die letzte WDR-Umfrage anzusehen. 62% finden das Thema heute weniger wichtig bis gar nicht wichtig. Je jünger die befragte Gruppe wird, desto wichtiger wird gendergerechte Sprache jedoch und das Bild verschiebt sich auf einmal.
Nun wissen wir aber auch, wie unmöglich es ist, von allen geliebt zu werden. Es ist also eine Frage der Haltung und des Aushaltens von Gegenwinds. Eine Frage danach, wie sehr man auf eine Zielgruppe unter 30 setzt. Wie sehr man der „Sapir-Whorf-Hypothese“ glaubt. Wie viel traut sich das Unternehmen zu? Wie weit schaut es in die Zukunft? Wie sehr traut es sich, voranzugehen?
Kontinuität vs. Reaktivität
„Müsst ihr denn jeden Trend mitmachen?“ Ein häufig gesehener Kommentar, der tatsächlich angebracht ist. Die Welle an plötzlicher Wokeness in der Werbung, vom Einsatz von Models aller Ethnien und Gewichts- und Altersklassen bis hin zu genderinklusiver Sprache, ist bemerkenswert. Und es stellt sich die Frage, ob etwas, das als normale Akzeptanz einer vielfältigen Gesellschaft gesehen werden sollte, als Trend verkommen kann. Meinen es diese Unternehmen ernst, oder werden sie wieder weißer, männlicher, konformer, sobald das allgemeine Interesse nachlässt? Hier lässt sich die Verwirrung mancher Konsument:innen nachvollziehen und ich verstehe sie weniger als eine Aufforderung, inklusive Sprache sein zu lassen, sondern die Kontinuität in das eigene Unternehmen hinein zu hinterfragen. Wie sehr entsprechen seine Werte und, noch wichtiger, Taten, dem Gezeigten?
Wenn man sich denn entscheidet, diesen kommunikativ mutigen Schritt zu gehen, wo beginnen?
Gemeinplatz Neutrum
Für die, die sich nicht ganz offensichtlich entscheiden wollen, gibt es immer noch, die manchmal flüssige, manchmal sperrigen neutrale Begriffe wie „Lesende“ oder Formulierungen, die eine Geschlechtsnennung ganz umgehen wie „alle, die mitlesen“.
Doppelt eindeutig
Eine Stufe weiter geht die Doppel-Nennung „Leser und Leserinnen“, meiner Ansicht nach nicht schön, aber zweckmäßig. Übrigens auch die Variante, die laut vorhin genannter WDR-Studie am wenigsten Kontroversität hervorruft.
Sternchen, Doppelpunkte, Unterstriche
Letztendlich meist am kürzesten, aber auch am leichtesten integrierbar: die Doppel-Kurzform wie „Leser:innen“. Meint alle mit, lässt jedoch auch keinen Deutungsfreiraum über die Haltung der Marke.
Kurz gesagt:
Inklusive Sprache ist ein kleiner Schritt für Marken, der mit wenig Aufwand vieles bewegen kann – jedoch Kontinuität, Konsequenz und Haltung erfordert.
Über die Autorin
Eva McKinnon ist Senior Vice President bei WongDoody, für das auf Consumer Marketing und Retail spezialisierte Team in EMEA. Zu den Kund:innen zählen OTTO, bonprix, Adidas, The Walt Disney Company, ROLF BENZ und Pierre Fabre. In Co-Kreation mit ihnen entwickelt das 70-köpfige Team von WongDoody Marken, digitale Lösungen, Kampagnen und Liquid Content. Das Ziel sind ganzheitliche Ökosysteme, die Marken mit Kunden verbinden, Markenloyalität fördern und gleichzeitig starke Kaufimpulse liefern.
Mission Female GmbH
Mission Female bietet erfolgreichen Frauen ein exklusives Netzwerk von Vertrauen und Austausch auf Augenhöhe und stärkt sie aktiv bei ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung. Dabei engagiert sich das 2019 von Frederike Probert gegründete Business-Netzwerk aktiv für mehr Female Power in Wirtschaft, Gesellschaft, Medien, Kultur, Sport und Politik und vereint erfolgreiche Frauen branchenübergreifend auf höchster Ebene mit einem Ziel: Gemeinsam beruflich noch weiter voranzukommen. Immer persönlich, vertraulich und verbindlich ganz nach dem Motto #strongertogether.
https://www.missionfemale.com/
Quellen:
https://www1.wdr.de/nachrichten/gender-umfrage-infratest-dimap-100.html
https://www.instagram.com/p/CZjaWBAs64D/?utm_source=ig_web_copy_link&igshid=MzRlODBiNWFlZA%3D%3D
https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/otto-versand-gendersternchen-sorgt-fuer-aufregung-a-05a1af16-4e28-4c37-ba6d-2005c9d8f5a3
https://www.facebook.com/EdekaWollny/posts/4188113087900913?ref=embed_post
https://www.mz.de/panorama/genderneutrale-sprache-in-disneyland-wird-auf-jungs-und-maedchen-verzichtet-3358201