Wie Inklusion gelingt

Immer mehr Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz setzen auf Inklusion in den eigenen Reihen. Wir haben recherchiert, worauf es dabei ankommt – und welche positiven Effekte das auf Arbeitergeber und Arbeitnehmer*innen hat.

Lena Öllinger erzählt und erzählt und erzählt. Von den Anfängen im Handel, einem klassischen Student*innenjob neben dem Studium, von den 1,5 Jahren bei einem Anwalt. Von der Zeit bei der Caritas, vom Wechsel in den Gesundheitsbereich und den Führungspositionen, die sie später innehatte. Eine richtige Karriere, sowas wünscht sich jede*r. Vorgesehen? Wäre die für Öllinger eigentlich nicht gewesen, also zumindest, wenn es nach einem Gutachter geht, dem Öllinger vor sehr vielen Jahren begegnet ist. Der hat sie maximal in einer geschützten Werkstätte gesehen. Warum? Weil Lena Öllinger beeinträchtigt ist.

Öllinger leidet unter dem sogenannten „Usher“-Syndrom – das heißt, die Seh- und Hörfähigkeit ist massiv beeinträchtigt. „Taubblind“ nennt Öllinger das selbst – und hätte sie vorhin nicht erzählt, dass sie das Telefon gerade auf Lautsprecher geschaltet hat, damit die Dame, die mit im Büro sitzt, dolmetschen kann, man würde das am Telefon überhaupt nicht merken. Zwischen 15 und 20 Prozent der Menschen in Österreich leben mit einer Behinderung, das sind rund 1,6 Millionen Personen; Frauen, Männer, Kinder. In der Schweiz sind es rund 1,4 Millionen, in Deutschland 7,8 Millionen Menschen. Das ist nicht nichts – trotzdem haben es Menschen in ihrem Alltag – und vor allem auf dem Arbeitsmarkt – immer noch schwer, auch, wenn sich hier in den vergangenen Jahren viel bewegt hat.

Der Diskurs in Sachen Diskriminierung, Diversität und Inklusion ist in der breiten Öffentlichkeit angekommen, immer mehr Unternehmen merken, wie groß das Thema Barrierefreiheit für Kund*innen ist und setzen gleichzeitig verstärkt auf Mitarbeiter*innen mit Beeinträchtigungen. So wie zum Beispiel die REWE-Group.

Klares Signal

Wann der richtige Moment gekommen war, das weiß man bei REWE nicht mehr so genau, aber das ist vielleicht auch gar nicht so wichtig. Spätestens im Jahr 2015 stand für den Konzern fest, dass man sich klar bekennen wolle. Damals führte die Gruppe – zu ihr zählen Geschäfte wie Billa, Penny, BIPA und ADEG – die sogenannte „Disability Charter“ ein: eine gemeinsame und klare Vision der Vorstände und Mitarbeiter*innen aller REWE-Filialen, die sich zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen verständigt.

Damit waren nicht nur die eigenen Mitarbeiter*innen gemeint, sondern auch die Kundinnen und Kunden der Filialen. „Wir sind von unseren Kund*innen ausgegangen und haben erstmal versucht, überall Barrierefreiheitsstandards zu implementieren“, sagt Sandra Edelmann, Diversity & Inclusion Managerin bei REWE. „Wir wollten aber mehr erfüllen als die baulichen Standards.“ Einkaufswägen für Rollstuhlfahrer*innen wurden in den Filialen angeboten oder bessere Kontraste an Preisschildern und Obst-/ Gemüsewaagen für Menschen mit Seheinschränkungen.

In manchen Märkten ist Einkaufen zur „stillen Stunde“ möglich – für reizempfindliche Menschen oftmals eine Erleichterung.

„Dann haben wir weitergeschaut und uns auch an Menschen mit konkreteren Bedürfnissen gerichtet.“ Was Edelmann genau damit meint? In zehn Märkten in ganz Österreich ist beispielsweise zu bestimmten Uhrzeiten der Einkauf zur „stillen Stunde“ möglich. Das ist vor allem für reizempfindliche Menschen, sehr oft Menschen mit Autismus, eine Erleichterung. Dazu wird in einem definierten Zeitfenster die Hintergrundmusik abgedreht, das Piepsen an der Kassa reduziert und die Beleuchtung gedimmt. „Ausgehend von unseren Märkten haben wir dann begonnen, unsere Website gemeinsam mit der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen nach internationalen Standards der Barrierefreiheit von Menschen mit Behinderungen auditieren und zertifizieren zu lassen“, so Edelmann weiter.

Davon ausgehend, sind irgendwann immer mehr die eigenen Mitarbeiter*innen in den Fokus gerückt. Mittlerweile arbeiten rund 800 beeinträchtigte Menschen in den unterschiedlichsten Positionen bei REWE. „Vor allem unsere größte Handelsfirma BILLA geht hier als Positivbeispiel der Inklusion voran“, sagt Edelmann. „Aber auch BIPA konnte den Anteil an Mitarbeiter*innen mit Behinderungen zuletzt deutlich steigern.“ Vom chronisch kranken Kollegen in der IT über einen autistischen Mitarbeiter im Aktionsmanagement bis hin zur kleinwüchsigen Kollegin an der Feinkosttheke und dem schwerhörigen Lehrling – „all diese Menschen bereichern unser Team Tag für Tag.“

Sensibilisierung durch Workshops

Was sich auf den ersten Blick alles sehr toll und vielleicht auch einfach liest, das
braucht eine lange und gute Vorbereitungszeit, und kein Unternehmen schafft die Umstellung hin zu mehr Inklusion völlig alleine. Deshalb gibt es Menschen wie Lena Öllinger, die Unternehmen beraten. Seit fünfeinhalb Jahren arbeitet Öllinger als Senior Disability Management Consultant für „MyAbility“ – ein Social Enterprise, das sich für eine chancengerechte und barrierefreie Gesellschaft einsetzt. Auf dem Weg zu mehr Inklusion steht Öllinger mit Rat und Tat zur Seite, egal, ob das ein kleines Start-up ist oder ein großer Konzern wie die ÖBB, egal, ob in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Das beginnt bei der barrierefreien Gestaltung von Gebäuden, geht mit Recruiting- und Strukturierungsmaßnahmen weiter – also: Wie komme ich als Unternehmer*in an Menschen mit Behinderungen und wie gehe ich richtig mit ihnen um – bis hin zu Sensibilisierung und Workshops.

Die Teilnehmer*innen lernen Menschen mit Behinderungen kennen, und dann findet ein Austausch statt. Damit sollen Vorurteile entkräftet und Ängste genommen werden – die Teilnehmer*innen können Fragen stellen, und das in einem geschützten Rahmen.

„Viele Unternehmer*innen unterschätzen den Aufwand, der da auf sie zukommt. Zum Beispiel muss man ein Team, in dem Menschen mit Behinderungen arbeiten, anders führen als eines ohne.“ Die erste Bestandsaufnahme erfolge jedenfalls immer in Workshops, sagt Öllinger. Da geht es in erster Linie viel um Daten, Fakten und Informationen. Sie dienen vor allem dazu, sich anzuschauen, was im Unternehmen bereits da ist und wo Verbesserungsbedarf herrscht. Dann gibt es noch einen sozialen Teil. Was das heißt? „Die Teilnehmer*innen lernen Menschen mit Behinderungen kennen, und dann findet ein Austausch statt. Damit sollen Vorurteile entkräftet und Ängste genommen werden – die Teilnehmer*innen können Fragen stellen, und das in einem geschützten Rahmen.“

Das Unternehmen SPAR hat, genauso wie Billa, all diese Stationen bereits durchlaufen. Verbesserungspotenzial? Gäbe es immer. Auch bei SPAR werden übrigens, genau wie bei Billa, Menschen mit Behinderung direkt vor Ort und in den Märkten eingesetzt „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Behinderung übernehmen bei SPAR Aufgaben in den Supermärkten, von der Regalbetreuung bis zur Kassa“, sagt Nicole Berkmann, Sprecherin bei SPAR. Filialen in Tirol und Oberösterreich wurden bereits für ihr inklusives Engagement ausgezeichnet.

Externe Beratungsdienste

Was Billa und SPAR außerdem gemeinsam haben? Beide arbeiten mit dem externen Beratungsdienst NEBA zusammen – dem Netzwerk berufliche Assistenz. NEBA bündelt verschiedenste Unterstützungsleistungen, die sowohl Menschen mit Behinderung als auch ausgrenzungsgefährdete Jugendliche in Anspruch nehmen können – völlig kostenlos. Finanziert wird NEBA über das Sozialministeriumsservice. „An NEBA können sich auch Unternehmen wenden, die Mitarbeiter*innen mit Beeinträchtigung suchen“, sagt Sabine Knopf von der Sozialministeriumsservice Landesstelle Wien. „Personen, die noch nie mit Menschen zu tun hatten, die eine Beeinträchtigung haben, können sich im ersten Moment gar nicht vorstellen was das heißt – das ist ja auch ganz normal.“

Auch Knopf betont, genauso wie Lena Öllinger, wie wichtig die Vorbereitung ist. Um Unternehmer*innen klarzumachen, dass beeinträchtige Jugendliche für eine Lehre eben nicht nur drei Jahre brauchen werden, sondern länger. Oder was denn eigentlich geleistet werden kann und was nicht. Auch geht es um den rechtlichen Rahmen, über den aufgeklärt werden muss – sowohl für Arbeitgeber*innen als auch für Arbeitnehmer*innen. Martina Rühmkopf ist selbst Unternehmerin und Franchise-Nehmerin von zwei SPAR-Filialen – arbeitet aber außerdem auch für das gemeinnützige arbeitsmarktpolitische Projekt „Trendwerk“. Sie selbst hat in zwei SPAR-Filialen zwei Jugendliche mit Down-Syndrom ausgebildet, sie kennt die Herausforderungen, die auf Seiten der Arbeitgeber*innen liegen.

„Die Bereitschaft vieler Unternehmen steigt, aber das liegt auch an der Quotenregel“, sagt Rühmkopf. Unternehmen ab einer Größe von 50 Mitarbeiter*innen sind verpflichtet, Menschen mit Behinderungen aufzunehmen. „Ich selbst sehe es als Arbeitgeberin als meine Pflicht und als sozialen Auftrag. Den nehme ich ernst. Aber einfach wird es den Unternehmer*innen nicht gemacht, weil die Bürokratie schon enorm ist. Und man muss es sich leisten können, das ist gerade für kleinere Unternehmen schwierig.“

Auch bei REWE räumt man ein, dass Inklusion nicht immer so einfach ist. „Inklusion passiert nicht im luftleeren Raum, daher stehen wir, was die Inklusion betrifft, vor ähnlichen Herausforderungen wie wir sie allgemein sehen: Abgelegene Standorte im ländlichen Raum, die keine öffentliche Verkehrsanbindung haben, sind nicht nur ökologisch, sondern auch sozial problematisch. Große Pensionierungswellen bedeuten auch oft, dass wir wieder Mitarbeiter*innen mit Behinderungen verlieren. Auch deshalb ist es uns wichtig, junge Menschen und Lehrlinge mit Behinderungen gezielt an zusprechen“, so Diversity Managerin Sandra Edelmann.

„Gleichzeitig wird es eng in den Städten, was für die Barrierefreiheit etwa in Altbauten schwierig werden kann. BIPA ist daher gerade dabei, einen Barrierefreiheits-Hub in der Wiener Innenstadt zu schaffen, bei dem Möglichkeiten zur Verbesserung der Barrierefreiheit in der Filiale getestet werden.“ Auch auf das Verständnis der Kund*innen sei man angewiesen: „Schwerhörige Mitarbeiter*innen können zum Beispiel nicht helfen, wenn sie von hinten angesprochen werden. Hier braucht es Geduld auf allen Seiten.

Kein Opferstatus

Inklusion und Diversität sind jedenfalls in den Unternehmen angekommen – egal, ob durch freiwillige Bereitschaft, wirtschaftlichen Druck oder Quote. Fakt ist, dass die Auswirkungen am Arbeitsplatz für alle Beteiligten und auch auf Kund*innen positiv sind, wenn Menschen mit Behinderung Teil des Teams sind – das belegen Studien. Nicht nur ist die Loyalität zu einem Unternehmen höher, weil es sozialer wird – auch Teams hätten einen stärkeren Zusammenhalt und profitierten in der Konfliktbewältigung. „Menschen mit Behinderungen wollen als ganz normale Menschen mit Bedürfnissen wie jede*r andere wahrgenommen werden“, sagt Lena Öllinger.

„Ja, wir haben eine Behinderung, aber wir sind nicht arm und auch keine Opfer – leider stellen die Medien das oft so dar.“ Menschen mit Behinderungen repräsentieren die gleichen Bedürfnisse, Werte und Einstellungen wie auch der Rest der Gesellschaft: „Wir sind loyal, fleißig, es gibt auch arbeitsscheue Menschen mit Behinderung. Das ist ganz normal und Teil der Realität.“ Wo Unternehmen in Sachen Inklusion in zehn Jahren stehen werden? „Unternehmen, die Inklusion nicht leben, werden in zehn Jahren einen wirtschaftlichen Nachteil haben, davon bin ich überzeugt“, sagt Öllinger. Und wo wird die Gesellschaft stehen? „Ich wünsche mir, dass jeder Mensch als das gesehen wird, was er ist: als Mensch. Egal, ob er eine Behinderung hat oder nicht.“

 

Inklusion im Großen – und im Kleinen

Karin Praniess von „Zero Project Unternehmensdialoge“ hat für uns Unternehmen kuratiert, die Inklusion leben. Mit dem „Austrian Leading Company“-Award vergibt „Zero Project“, initiiert von Unternehmer Martin Essl, jedes Jahr einen Inklusions-Award.

  • Denn’s Biomarkt: Zehn Standorte des Bio-Markts gibt’s in Wien, mindestens zwei Mitarbeitende pro Markt sind Menschen mit Behinderung.
  • MVG Tabakmonopolverwaltung: Das größte Netzwerk beeinträchtigter Menschen am Arbeitsmarkt: Trafiken werden meist an Menschen mit Behinderungen vergeben, die ihrerseits wieder Menschen mit besonderen Bedürfnissen anstellen.
  • Marienapotheke: Die Apotheke hat einen gehörlosen Apotheker angestellt und drei Pharmazeutisch-kaufmännische Asisstent*innen mit Beeinträchtigung in Ausbildung. Gutes Beispiel, welchen wirtschaftlichen Vorteil das haben kann: Aus ganz Österreich kommen Menschen, die selbst gehörlos sind, um sich beraten zu lassen.
  • Redaktion andererseits: Menschen mit und ohne Behinderung machen Medien.
  • LKH Feldkirch: Ein junger Mann mit Down-Syndrom bringt die Besucher*innen zu den Patient*innen.
  • Firma Jungwirth Betonwerk: kleine Baufirma, die zwei Mitarbeitende mit Down-Syndrom
    beschäftigt.
  • Videbis: stellt Brillen und Lesegeräte für blinde und sehbehinderte Menschen her, 30 Prozent der Mitarbeitenden haben selbst eine hochgradige Sehbehinderung.

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