In den letzten Jahren ist es bei REWE gelungen, viele Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Wie hat sich diese Entwicklung vollzogen?
Dominique Müllner: Wir haben 2016 mit dem Beratungsprozess mit MyAbility ( zu dem Zeitpunkt noch DisAbility Performance) begonnen. Damals waren bei BILLA 145 Menschen mit Behinderungen angestellt. Heute stehen wir bei über 630 (inklusive BILLA Plus).
Diese Kollaboration hat also viel angestoßen?
DM: Ja, definitiv. Man braucht manchmal Partner:innen von außen, die Expertise in Bereichen mitbringen, in denen man selbst noch wachsen will und muss. MyAbility hat sich damals vor allem unseren Mitarbeiterzyklus angesehen und den Bewerbungsprozess. Aus dieser Analyse heraus sind sehr viele Maßnahmen abgeleitet worden.
Was ist das Wichtigste, wenn ein Unternehmen ein offenes Mindset für die Anstellung von Menschen mit Behinderung schaffen will?
DM: Wenn sich da was ändern soll, muss es die Führung mittragen. Wir hatten damals mit Vorstandsvorsitzendem Frank Hensel eine treibende Kraft hinter dem Thema. Das hat enorm geholfen, um das im ganzen Unternehmen gut zu verankern. Es braucht ein starkes Back-Up von oben, und das haben wir bis heute.
Grassroots alleine reicht da nicht?
DM: Umgesetzt werden solche Änderungen natürlich über alle Ebenen hinweg. Da müssen alle mitmachen. Aber es bekommt einfach einen starken Drive, wenn der Vorstand vor die Mitarbeiter:innen tritt und sagt: Wir machen das jetzt. Das ist uns wichtig.
Frau Edelmann, Sie waren damals im Team von DisAbility Performance und haben mit den Stakeholdern den DisAbility Performance Check gemacht. Heute sind Sie selbst die Diversity-Beauftragte von REWE. Wie nehmen Sie die bisherigen Entwicklungen wahr – zuerst von außen, heute von innen?
Sandra Edelmann: Aufbauend auf dem DisAbility Performance Check hat REWE eine DisAbility Managerin etabliert, die das Thema im Konzern vorangetrieben hat. Die Maßnahmen, die ich damals beratend vorgeschlagen habe, sind also nicht in der Schublade verstaubt, sondern wurden von Kolleg:innen im Konzern tatsächlich umgesetzt. Vor allem BILLA sticht hier sehr positiv hervor.
Wie wichtig ist es, dass es konkrete Ansprechpersonen für diese Themen in den Unternehmen gibt?
SE: Wenn man will, dass sich etwas tut, dass sich eine Entwicklung vollzieht, die man auch vernünftig messen und evaluieren kann, muss es jemanden geben, der oder die sich auch verantwortlich fühlt. Das ist eigentlich ein No-Brainer, aber niemand schafft gerne neue Stellen.
Neue Stellen müssen sich immer auch rechnen. Wie rechnen sich DisAbility Manager:innen?
SE: Durch die Einsparungen an Ausgleichstaxe, den Imagegewinn für das Unternehmen und die geringere Fluktuation bei Mitarbeiter:innen mit Behinderungen lässt sich diese Stelle gut rechtfertigen und schlägt auch nicht zu Buche. Heute, sieben Jahre nach dem ersten Beratungsprozess, ist es ganz normal, dass man reportet und sich ansieht, wo man gerade steht. Die Prozesse stehen, die Verantwortlichkeiten sind klar und heute ist das eine Selbstverständlichkeit. Es braucht aber klare Ziele und ein Commitment zu Zahlen.
Wie sehen solche Ziele aus? Sind die konkret oder eher Visionen?
SE: Beides. Wir wollen für Menschen mit Behinderungen der attraktivste Arbeitgeber Österreichs im Handel sein. Und wir wollen, dass bis 2025 mindestens zwei Prozent der Belegschaft von REWE Menschen mit Behinderungen sind.
Das ist bei einem Unternehmen dieser Größe nicht wenig, aber immer noch unter den gesetzlichen Vorgaben …
SE: Uns ist bewusst, dass dieses Ziel unter der gesetzlichen Quote liegt. Dennoch war es uns bei unserer Größe wichtig, ein realistisches und erreichbares Ziel zu stecken. Wenn dieses Ziel erreicht ist, werden wir den nächsten Schritt gehen.
Wieviele Personen sind zwei Prozent in konkreten Zahlen?
SE: Bei REWE arbeiten rund 44.000 Mitarbeiter:innen. Da wären das 880 Menschen. BILLA alleine hat 33.000 Mitarbeiter:innen, das wären also rund 660 Personen nur bei BILLA. Dieses Ziel haben wir schon knapp erreicht.
Das sind ambitionierte Ziele. Es ist ja gar nicht so einfach, diese Zahlen zu erreichen. Die Menschen, die Sie einstellen, müssen ja auch den Anforderungsprofilen entsprechen. Wie kommen Sie an genug Bewerber:innen?
DM: Wir arbeiten auch hier mit externen Expert:innen zusammen. T.I.W. hilft uns beispielsweise in Wien dabei, Lehrlinge mit Behinderungen zu finden. Sie unterstützen uns stark im Bereich Recruiting und damit, die jungen Leute mit den Filialteams und Führungskräften zu matchen. Das NEBA Betriebsservice bietet neben Wien auch in den Bundesländern Ansprechpartner:innen für unsere Führungskräfte und HR Business Partner:innen, damit auch hier eine Vernetzung stattfindet.
Wieso ist es so wichtig, die Führungskräfte selbst mit den Expert:innen zu vernetzen?
DM: Weil viel schon bei der Bewusstseinsarbeit geschieht. Und wenn Führungskräfte gut vernetzt sind mit Beraterfirmen und Organisationen, die mit Menschen mit Behinderungen zusammenarbeiten, können diese Führungskräfte bei Bedarf einfach direkt auf die Expert:innen zugehen und dort nach Mitarbeiter:innen suchen. Das muss dann nicht alles über die Zentrale gehen und wird dadurch einfacher und schneller.
Wie fördern Sie diese Bemühungen von lokalen Führungspersonen?
DM: In Österreich gibt es die Ausgleichstaxe. Unternehmen ab 25 Personen müssen eine gewisse Anzahl an Menschen mit Behinderungen anstellen, sonst müssen sie Ausgleichstaxe zahlen. Werden Menschen mit Behinderung angestellt, rechnen wir den Filialen den Betrag, der normalerweise als Ausgleichstaxe fällig werden würde, als Gutschrift an. Das hilft dann, Arbeitsstunden aufzustocken und soll auch ein Ansporn sein, Menschen mit Behinderungen einzustellen.
Es ist ja gar nicht so leicht zu wissen, wer im Unternehmen eine Behinderung hat. Auch beim Bewerbungsgespräch sagen Menschen das ja nicht immer gleich dazu – es könnte für sie auch nachteilig sein. Wie gehen Sie damit um?
DM: Hier muss man verschiedene Aspekte mitdenken. Auf der einen Seite schreiben wir dezidiert aus, dass die Bewerbung von Menschen mit Behinderungen ausdrücklich erwünscht ist und arbeiten seit vielen Jahren daran, uns als inklusiven Arbeitgeber zu positionieren. Aus Bewerber:innensicht kann ich verstehen, dass man hier vielleicht noch misstrauisch ist. Denn ob ein Unternehmen Inklusion wirklich lebt, zeigt sich erst, wenn man beginnt dort zu arbeiten. Daher geben viele Menschen beim Bewerbungsgespräch nicht bekannt, dass sie einen Feststellbescheid haben, aus Angst, keine Zusage zu erhalten
In Österreich haben viele Menschen kaum Schnittpunkte mit Menschen mit Behinderungen. Im Kindergarten oder in der Schule landen Menschen mit Behinderungen oft in gesonderten Klassen oder Einrichtungen. Der Umgang mit ihnen normalisiert sich bis ins Berufsleben oft nicht, was problematisch ist und Unconscious oder Conscious Biases hervorbringt. Wie werden also Führungskräfte darauf vorbereitet, Bewerber:innen mit Behinderungen zu interviewen?
DM: Gerade Bewusstseinsarbeit mit Führungskräften ist enorm wichtig. Hier gibt es Leitfäden für Interviews, die zum Beispiel darauf hinweisen, sich auf die Stärken der Bewerber:innen zu konzentrieren, nicht auf Dinge, die nicht gehen. Ein gutes Mittel, um sich gegenseitig zu beschnuppern, sind Praktika oder Arbeitstrainings. So haben beide Seiten die Möglichkeit zu sehen, ob der Job zum:zur Arbeitssuchenden passt und umgekehrt.
Das ist ja manchmal wie ein Outing. Für Sie als Arbeitgeber ist es wichtig, zu wissen, wie viele Menschen mit Behinderung eigentlich bei REWE arbeiten. Aber wie kann man Menschen ermutigen, sich den Feststellungsbescheid zu holen?
DM: Wir haben 2017 eine Urlaubsregelung eingeführt, nach der Menschen mit 50 % Grad der Behinderung drei zusätzliche Urlaubstage bekommen. Ab 70 % Grad der Behinderung geben wir vier Urlaubstage extra. Das hat bewirkt, dass sich auch anspruchsberechtigte, bestehende Mitarbeiter:innen den Feststellungsbescheid holen.
Was hat eine Firma eigentlich davon, wenn sie Menschen mit Behinderungen anstellt? Das klingt auf den ersten Blick vor allem nach Mehrkosten und Mehrarbeit.
DM: Wir sehen, dass Menschen mit Behinderungen tolle und sehr loyale Arbeitskräfte sind. Sie bleiben länger in der Firma. Bei BILLA gibt es eine durchschnittliche Zugehörigkeit von acht Jahren. Bei Menschen mit Behinderungen ist sie doppelt so hoch und liegt bei ca. 15 Jahren. Abgesehen davon, bringen diverse Teams, in denen Inklusion gelebt wird, auch ein Mehr an Motivation und Zusammenhalt im Team. Wir bekommen auch immer wieder das Feedback, dass Kund:innen nach den Kolleg:innen mit Behinderung fragen, wenn diese mal auf Urlaub sind oder gerade keinen Dienst haben. Ein schöneres Feedback kann man sich als Unternehmen nicht wünschen.
Gibt es für Menschen mit Behinderung auch im Ausbildungsbereich Angebote?
DM: Ja, wir haben hier die verlängerte Lehre von vier Jahren, oder bieten auch überbetriebliche Lehrausbildung oder Teilqualifizierung an. Worauf wir besonders stolz sind, ist die Zusammenarbeit mit Haus Aktiv. Hier haben wir an deren Standort im 23. Bezirk eine voll funktionsfähige Kassa für Schulungen installiert. Unsere BILLA Trainer:innen haben die Anleiter:innen von Haus Aktiv darauf eingeschult, um das Wissen weitergeben zu können. In Praktika und Trainings werden hier Menschen mit Behinderungen für den ersten Arbeitsmarkt fit gemacht.
Wie hält man es bei REWE und BILLA mit Gender Equality?
SE: Wir haben bei BILLA einen besonderen Fall. BILLA ist ein Unternehmen von Frauen für Frauen. 80 % der Mitarbeiter:innen sind weiblich, der Großteil der Kund:innen ist weiblich.
Und in den Führungsetagen?
SE: Im Vorstand sind hauptsächlich Männer. Also wir sehen eine gläserne Decke: Auf der Fläche arbeiten hauptsächlich Frauen, nach oben hin werden die Frauen aber immer weniger. Das muss sich ändern.
Wie kann das gelingen?
SE: Wir wollen Vielfalt. Diese Vielfalt muss sich auch strukturell widerspiegeln: Im Marketing, im Vertrieb, in der Technik und der IT. Das Wichtigste ist, dass diese Vision alle Player in ihren Alltag übersetzen und umsetzen können.
Was heißt das im Alltag?
SE: Dass das alle mitdenken in ihrer täglichen Arbeit. Wenn Personalentscheidungen getroffen werden, dass es Frauen an Schlüsselstellen braucht. Wir arbeiten hier an drei großen Säulen: Unternehmenskultur und Mindset, flexible Führungsmodelle und Empowerment von Frauen durch spezielle Entwicklungsprogramme, Netzwerke und Role Models.
Warum ist das Thema Gender Equality so wichtig bei REWE?
DM: Auf der einen Seite, weil wir dieses Ungleichgewicht der Geschlechter zwischen dem Großteil der Arbeitnehmer:innen und der Führung haben. Und andererseits, weil das auch im Employer Branding ganz wichtig für uns als Arbeitgeber ist. 80 % Frauen am Beispiel BLLA, das ist ein Riesenhebel. Wir wollen, dass Frauen nach der Karenz zu uns zurückkommen, dass sie Beruf und Familie mit uns als Arbeitgeber vereinbaren können. Uns beschäftigt außerdem das Thema Führen in Teilzeit. An all dem müssen wir dranbleiben.
Bei Gender Equality denkt man ja auch immer die Männer mit, damit das alles funktioniert. Welche Learnings haben Sie da gemacht?
SE: Man muss wirklich stark mit den Männern zusammenarbeiten. Und Bewusstsein schaffen. Es geht immer um die Frage, wieso sich Entscheidungsträger gegen Frauen in der Führung entscheiden. Das kriegen wir nur über Zusammenarbeit hin.
DM: Ein Learning haben wir auch gemacht, als die Familienzeit für Männer eingeführt wurde, also die Möglichkeit für Väter, in den ersten drei Monaten nach der Geburt des Kindes für vier Wochen zuhause zu bleiben. Wir haben damals eine Absichtserklärung aufgesetzt, dass jeder Vater diese Familienzeit in Anspruch nehmen kann, egal in welcher Position. Und einer der ersten, der das gemacht hat, war damals ein Vertriebsmanager und verantwortlich für ein paar tausend Leute. Babys suchen sich nicht aus, wann sie kommen, und so wurde in diesem Fall die Familienzeit in der Weihnachtszeit, also in der geschäftigsten Zeit des Jahres, in Anspruch genommen. BILLA steht trotzdem noch und es hat alles geklappt. Also so etwas muss man auch nutzen, um zu zeigen: Jeder kann Väterkarenz machen.
Karenz ist immer nur ein kleiner Teil des Familienlebens. Wie unterstützen Sie Familien im Alltag, wenn die Karenz vorbei ist?
DM: Betreuung ist immer ein großes Thema. Wir bieten hier in den Ferienzeiten Camps an, die ganzwöchig gehen, wo die Kinder in Kärnten oder Salzburg ein Feriencamp besuchen können. Eltern zahlen nur einen sehr geringen Selbstbehalt, den Rest übernehmen wir.
Diversität hat viele Dimensionen. Womit beschäftigen Sie sich noch und wo geht der Weg hin?
DM: Wir haben vor einigen Jahren ein LGBTIQ*-Netzwerk ins Leben gerufen. Und wenn wir uns die unterschiedlichen Herkunftsländer unserer Mitarbeiter:innen ansehen, sind über 100 Nationen bei BILLA uns beschäftigt. Man kann sagen, die halbe Welt arbeitet bei BILLA. Darauf müssen wir ebenso schauen und diese Vielfalt als Stärke sehen. Es gibt immer etwas zu tun und immer etwas zu verbessern. Aber wir sind auf einem guten Weg.